Die Mysterien von     Blarney Cove

Das Sanatorium

Prolog

Prolog

 

Gibt es Orte auf dieser Welt, die mysteriöse und rätselhafte Ereignisse regelrecht anziehen? Wo scheinbar eine auffällige Konzentration von negativen Energien vorherrscht? Wenn ja, dann gehört Blarney Cove ganz sicher zu einem dieser Orte. Ich selbst bin hier groß geworden, habe praktisch mein ganzes Leben hier verbracht. Und nun bin ich alt und ich blicke zurück auf ein Leben, eng verwoben mit dem Schicksal dieses Ortes. Ebenso wie das Schicksal vieler Familien, die hier seit Generationen ansässig sind.

 

Um genau zu sein gehören Schicksalsschläge in manchen hier lebenden Familien seit Jahrzehnten anscheinend zum alltäglichen Erleben. Blarney Cove ist mittlerweile regelrecht durchzogen von Plätzen, die niemand mehr betreten sollte und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. So ist Blarney Cove im Laufe der Zeit fast zu einer Art Geisterstadt geworden, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich mir dieses kleine Wortspiel an dieser Stelle einmal erlauben darf.

 

Ihr fragt euch, wie sich ein Leben an einem solchen Ort überhaupt ertragen lässt? Nun, man gewöhnt sich gewissermaßen daran, wächst quasi hinein und irgendwann sind die Dinge einfach so, wie sie sind. Und überhaupt geht es doch im Grunde genommen weniger ums Ertragen, als ums Überleben, wenn wir mal ehrlich sind. 

 

Nun da ich zurückblicken kann auf viele Jahrzehnte, die ich hier in Blarney Cove verbracht habe, ist mein Kopf voll von Geschichten und Schicksalen, die teilweise so mysteriös und surreal sind, dass euch vor Grauen das Blut in den Adern gefrieren wird.

 

Habe ich euch neugierig gemacht? Nun, das freut mich. Lasst euch also von mir mitnehmen in die Mysterien von Blarney Cove. Wisst ihr, ich bekomme nur noch selten Besuch und es bereitet mir jedes Mal Vergnügen, wenn ich jemandem die alten Geschichten erzählen kann. Eine Art Faszination des Grauens, wenn man so will. Aber ich muss euch vorwarnen. Denn das was ich zu berichten habe, ist wahrlich nichts für schwache Gemüter. Hmm, wo führe ich euch heute hin? Lasst mich mal überlegen. Wie wäre es … Ja, ich denke so machen wir es.

 

Traut ihr euch? Seid ihr euch wirklich sicher? Nun, dann tretet ein, in das Sanatorium von Blarney Cove. Wir schreiben das Jahr 1968 und exakt in diesem Jahr ereignete sich auch die große Tragödie, die nur kurze Zeit später zur endgültigen Schließung des Sanatoriums führen sollte. 

 

Als es gebaut wurde, war das Sanatorium von Blarney Cove tatsächlich eines der modernsten Einrichtungen seiner Art. Sogar von außerhalb haben Familien ihre kranken Angehörigen zur Therapie in die Einrichtung gebracht. Wartet mal, da fällt mir etwas ein. Das wird euch sicher interessieren. Wo habe ich sie denn? Sie muss doch hier irgendwo sein. Ich bin mir sicher, dass ich sie aufgehoben haben. Na wer sagt’s denn. Hier ist sie ja. Die Broschüre vom Sanatorium. ‚Das Haus der helfenden Hände‘ Aber lest am besten einmal selbst.

 

‚Das Haus der helfenden Hände‘ wurde 1954 eröffnet und ist eine Einrichtung der Magdalenen Stiftung. Wir haben uns auf die Behandlung von geistig verwirrten Männern und Frauen spezialisiert. Auf dem Klostergelände des Magdalenenordens, inmitten der idyllischen Heidelandschaft bieten wir auf insgesamt vier Stationen 120 Menschen einen Platz zur Heilung und Regeneration. Ziel ist es, kranken Jugendlichen und Erwachsenen einen geschützten Raum zu bieten, in dem sie die Kraft, die sie zum Heilen benötigen tanken können.

 

Zu unserer Gemeinde zählt die malerische Kleinstadt Blarney Cove mit ihren etwa 30.000 Einwohnern. Blarney Cove ist mit dem Auto in ca. 30 Minuten zu erreichen und bietet für Patienten und Angehörige Einkaufsangebote und mit seinen zahlreichen kleinen Cafès und Restaurants Orte der Zerstreuung. Rund um Blarney Cove liegt die idyllische Heidelandschaft, durchzogen von vielen Rad- und Wanderwegen.

 

Unsere Patienten leben für die Dauer ihres Aufenthaltes in modern eingerichteten 5-Bett Zimmern, selbstverständlich streng nach Geschlechtern getrennt. Neben Musik-, Gestalt- und Tanztherapie finden auch regelmäßige Gesprächstherapien statt. Diese werden entweder in Gruppen angeboten oder individuell für den Patienten. Darüber hinaus legen wir Wert darauf, dass unsere Patienten in hauswirtschaftliche Tätigkeiten integriert werden, dazu gehören unter anderen Reinigungstätigkeiten, Küchenarbeiten und Einsätze bei der Gartenarbeit und in der hauseigenen Wäscherei.

 

Wir sind stolz darauf, den uns anvertrauten Schützlingen die neuesten und besten Therapieformen anbieten zu können. Unsere Behandlungsphilosophie beruht auf einer Krankheits- und Therapievorstellung, die Körper, Geist und Seele als Einheit begreift, in der nicht nur die Erkrankung, sondern der gesamte Mensch behandelt wird.

 

Die ärztliche Betreuung obliegt Dr. Christian Bennet und seinem Ärzteteam. Einen besonderen Namen hat sich Dr. Bennet in der Therapie der "posttraumatischen Belastungsstörung" gemacht. Seine von ihm entwickelten neuen Therapieformen im Bereich der Psychotherapie sind bahnbrechend und wegweisend.

 

Unsere Pflegerinnen, sind zum einen speziell ausgebildete Nonnen des Magdalenenordens und zum anderen externe Fachkräfte. Unser Leitbild ist insgesamt von unserem christlichen Gedanken geprägt und beherrscht all unser behandlerisches Handeln. Wir legen Wert darauf, dass unsere Patienten, sofern das Krankheitsbild es zulässt, an der gemeinsamen sonntäglichen Frühmesse teilnehmen. Diese wird gelesen von Pastor Anton Briggs. Pastor Briggs steht der Gemeinde von Blarney Cove vor und leitet dort den Magdalenenorden. Er ist grundsätzlich für das seelsorgerische Wohl unserer Schützlinge verantwortlich.

 

Aber nun lasst uns nicht länger abschweifen. Wie gesagt, wir schreiben das Jahr 1968. Der sogenannte Summer of Love hatte eine gewisse Unbeschwertheit nach Blarney Cove gebracht und niemand sollte zu diesem Zeitpunkt auch nur ahnen, welche Tragödie in diesen Tagen seinen Anfang nahm.

Kapitel 1

Es war dunkel. Stockfinster. Kalt. Sehr kalt. Ihre Gliedmaßen zitterten unkontrolliert und ihre Zähne schlugen aufeinander. Mühsam riss sie die Augen auf. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Wo bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen? Wer bin ich? Was passiert mit mir? 

Sie fühlte sich irgendwie benommen, fast so, als würde sie gerade aus einer tiefen Narkose erwachen. Durst, so schrecklicher Durst. Vorsichtig versuchte sie ihre Arme und Beine zu bewegen, spürte dann jedoch einen Widerstand. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie an einer Art Bett festgebunden war. An den Hand- und Fußgelenken befanden sich feste Lederriemen, genauso um ihren Bauch. Der Kopf war so auf dem Bett fixiert, dass sie ihn nur minimal nach rechts und links drehen konnte. Panik erfasste sie und sie glaubte zu ersticken. Wie ein gefangenes Tier versuchte sie gegen die Fesseln anzukämpfen, bemerkte jedoch schon nach kurzer Zeit, dass dieser Kampf sie nur unnötig Kraft kostete. Ihr Atem ging nur noch stoßweise und die Haut an Hand- und Fußgelenken brannte wie Feuer durch das Scheuern der Lederriemen. Erschöpft schloss sie für einen Moment die Augen und versuchte tief Luft zu holen. Zitternd entwich der Atem aus ihren Lungen. Als sie die Augen wieder öffnete, hatten sich entweder ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, oder es musste irgendwo eine Art indirekte Lichtquelle vorhanden sein. Und tatsächlich, wenn sie ihren Kopf die wenigen Zentimeter anhob, die der Lederriemen Bewegungsfreiheit gewährte, konnte sie zu ihren Füßen am Ende des Zimmers eine Tür erkennen. In dieser Tür gab es ein kleines Fenster, gerade groß genug, dass es einem Menschen möglich war, in den Raum zu blicken, in dem sie lag. Der Gang vor der Tür lag zwar im Dunkeln, allerdings musste irgendwo am Ende des Ganges eine Lichtquelle sein. Und dieses wenige Licht war tatsächlich ausreichend, dass sie schemenhafte Umrisse innerhalb des Raumes wahrnehmen konnte. Aus dem Bedürfnis heraus, sich in irgendeiner Form zu orientieren, begann sie, sich im Zimmer umzusehen. Die Wände waren komplett kahl, es gab keine Bilder, keine Fenster und auch sonst keine weiteren Gegenstände. Die Wände selbst schienen aus einem weichen Material zu bestehen, fast wie ein Gummipolster. Sie selbst war mit einer Art Baumwollhemd bekleidet, ansonsten trug sie anscheinend keine weiteren Kleidungsstücke. Das Mädchen begann, in sich hinein zu fühlen. Habe ich Schmerzen? Tut mir irgendetwas weh? Zu ihrer Erleichterung stellte sie jedoch fest, dass sie augenscheinlich körperlich unversehrt war.

 Die Angst überwältigte sie abermals und sie versuchte zu schreien: "Hilfe!", formten ihre Lippen beinahe tonlos. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, fast so, als wären ihre Stimmbänder schon eine ganze Weile nicht mehr benutzt worden. 

"Hilfe!" Das war schon ein wenig lauter. Das Mädchen horchte in die Stille hinein. Nichts. Abermals holte sie tief Luft, um Hilfe herbeizurufen. 

"So helft mir doch! Bitte! Irgendjemand!" Wiederum horchte sie und diesmal schien sie tatsächlich Erfolg zu haben. Ja, da waren Schritte auf dem Gang. Das Licht auf dem Flur ging an und erhellte ihr Zimmer um einige weitere Nuancen. Ein Schatten legte sich über den Raum, als eine Person mit ihrem Körper das kleine Fenster in der Tür verdeckte. Jemand stand dort draußen und schaute hinein in die Dunkelheit, in der sie sich befand. Beobachtete sie?  

"Hilfe, ich bin hier! Bitte helfen sie mir doch!“ rief sie.

Dann hörte sie wie eine Art Riegel bewegt wurde. Die Tür wurde geöffnet.  Wieder Schritte. Sie bewegten sich auf ihr Bett zu, schließlich kam ein Gesicht in ihr Sichtfeld. Eine Frau von etwa 40 Jahren blickte auf sie herab. Die dunklen langen Haare waren zu einem strengen Knoten zurückgebunden, auf dem Kopf trug sie eine Haube. Ein Krankenhaus. Natürlich, ich bin in einem Krankenhaus. Schoss es ihr durch den Kopf.

"Wo bin ich hier?" flüsterte sie mit heiserer Stimme, räusperte sich dann und fragte schon etwas lauter: "Warum bin ich festgebunden?" 

Die Krankenschwester blickte sie nachdenklich an, unschlüssig, was sie antworten sollte. Schließlich fragte sie: "Du kannst dich also an gar nichts erinnern?" 

"Wa … was meinen Sie? Nein, ich erinnere mich an gar nichts. Wie bin ich hierhergekommen? Hatte ich einen Unfall? Was ist mit meinen Eltern? Habe ich Familie?" 

"Nein, ... kein Unfall.", sagte die Krankenschwester gedehnt, "Eigentlich warst du schon immer hier. Na ja, zumindest so lange ich hier arbeite. Deine Eltern ... nun, du erinnerst dich also wirklich nicht, was mit deiner Familie passiert ist?", entgegnete die Krankenschwester ausweichend. 

"Nein, ich weiß noch nicht einmal meinen eigenen Namen. Oh mein Gott, es ist etwas Schreckliches passiert nicht wahr? Bitte sagen sie mir die Wahrheit. Ich merke doch, dass sie mir etwas verschweigen." 

"Nun beruhige dich erst einmal." redete die Krankenschwester beschwichtigend auf sie ein. "Es ist mitten in der Nacht, also versuche ein wenig zu schlafen." 

"Ich will mich aber nicht beruhigen, ich will einfach nur wissen, was los ist!" aufgebracht begann das Mädchen an den Lederriemen zu zerren. "Sagen sie mir doch endlich was passiert ist und warum ich hier bin", sie bemerkte selbst, dass sie immer lauter wurde. 

Die Krankenschwester kniff die Lippen zusammen, sie schien kurz zu überlegen. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, ganz so, als hätte sie eine Entscheidung gefällt. Sie wandte sich ab, so dass sie mit dem Rücken zu dem Mädchen stand und schien den Geräuschen nach mit Gegenständen zu hantieren. Was tut sie da? Mein Gott, was tut sie da? Ich kann nichts sehen. Kann den Kopf nicht bewegen. Nach wenigen Minuten drehte sich die Krankenschwester wieder zu ihr um und das Mädchen bemerkte, dass diese nun einen kleinen Gegenstand in ihrer Hand hielt. Das Licht, das vom Flur in ihren Raum fiel, reflektierte an der Spitze des Gegenstandes. Eine Erinnerung blitzte auf, ein Gefühl von Angst und eine Ahnung was nun folgen würde. Eine Spritze, natürlich, das war eine Spritze. 

"Nein!" Sie bäumte sich auf und wusste doch im selben Augenblick, dass es aussichtslos sein würde. Die Schwester reagierte nur mit einem kurzen mitleidlosen Blick auf ihren Aufschrei und fuhr fort, ihr einen Schlauch um den Oberarm zu legen. Sie zurrte ihn fest, zu fest, die Blutzufuhr wurde abgeschnürt. Das Mädchen wurde immer wütender, sie fühlte sich so hilflos und so verdammt ausgeliefert. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und kämpfte mit aller Kraft gegen die Gurte an, diese gaben jedoch keinen Zentimeter nach. 

"Halt still, verdammt noch mal. Wenn du so weitermachst, tust du dir nur selbst weh.", fuhr die Schwester sie mit scharfer Stimme an. Wut, ohnmächtige Wut strömte heiß durch ihren Körper. 

Sie schrie noch einmal, so laut, dass die Adern an ihrem Hals hervortraten wie zum Zerreißen gespannte Sehnen. 

"Neeeiiiin! Verschwinde! Lass mich in Ruhe!" Dann spürte sie den Einstich und nahezu im gleichen Moment erfasste eine unglaubliche Müdigkeit und Schwere ihren Körper. Die Augen verdrehten sich nach hinten, so dass nur noch der weiße Augapfel zu sehen war. Ihr Kopf sank kraftlos auf die Seite und Speichel lief aus ihrem Mundwinkel. Wie aus weiter Ferne hörte sie eine Stimme. 

"Sei ein braves Mädchen und schlaf. Der Professor wird sich gleich morgen früh mit dir befassen." Dann war alles nur noch schwarz und sie fiel in einen traumlosen Schlaf.

Kapitel 2

Wie durch einen dicken undurchdringlichen Nebel hörte sie die Geräusche. Es klang wie Gemurmel. Jemand sprach. Nein. Es waren mehrere Personen. Deutlich konnte sie männliche und weibliche Stimmen ausmachen. Worüber sprachen sie? Gott der Nebel war so dicht, er schien jedes Geräusch in sich aufzusaugen. Einzelne Wörter, Satzfetzen drangen zu ihr durch. 

"...hätten mich wecken sollen. ... wecken müssen" Das war eindeutig eine männliche Stimme. 

Dann eine weibliche Stimme: "... mir leid. ... dachte nicht ... wichtig ist." 

Der Mann von vorher antwortete: "Schon gut. ... nicht mehr ändern. ... wirklich wach?" Die Antwort der Frau wurde komplett vom Nebel absorbiert. Verdammt, worüber sprachen sie? Ging es vielleicht um sie selbst? Wenn ich mich doch bloß besser konzentrieren könnte. Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber die Lider schienen wie zugeklebt. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen fest und fühlte sich wie ein seltsamer, aufgequollener Fremdkörper an. 

"Was ... gesagt? ... sich erinnern?" Das war wieder der Mann. Erinnern? Woran sollte ich mich erinnern? Krampfhaft versuchte sie den Gedanken festzuhalten, aber er rann ihr durch die Finger wie fließendes Wasser. 

"... erinnert ... an gar nichts, ... komplett gelöscht." Wieder die Frau. Eindeutig, es handelte sich um zwei Personen. Die Stimme der Frau kam ihr irgendwie bekannt vor. Woher nur kannte sie diese Stimme? Sie wusste, dass es wichtig war, konnte aber auch diesen Gedanken nicht lange genug festhalten. Sie schienen ihr einfach immer wieder zu entgleiten. 

" ... sollten dafür sorgen, ... so bleibt. ... besten für alle.", sagte die männliche Stimme. 

Wenn ich doch bloß meine Gedanken zusammenhalten könnte. Konzentrier dich. Was wollen sie mir verheimlichen? 

"Verstanden.", sagte die Frau, " ... alles in die Wege leiten." Ein Stöhnen entrang sich der Kehle des Mädchens und sie hielt erschrocken den Atem an. Haben sie etwa bemerkt, dass ich wach bin? Ahnen sie, dass ich sie belauscht habe? 

"... glaube … wird wach ... später weiter."

Schritte näherten sich ihrem Bett. Sie erkannte die Krankenschwester wieder, die sich schon in der vergangenen Nacht um sie gekümmert hatte. Neben ihr stand ein schlanker älterer Mann mit glattem grauem Haar, welches ihm bis auf den Kragen fiel. Sein hageres Gesicht wurde zur Hälfte von einem graumelierten gepflegten Bart bedeckt, auf der Nase trug er eine schmale Metallbrille mit runden Brillengläsern. Als er auf sie herabblickte, konnte sie schemenhaft ihr eigenes Spiegelbild in den Brillengläsern erkennen. Er trug über einem grauen Anzug einen leicht zerknitterten weißen Arztkittel. Das muss der Professor sein, schoss es ihr durch den Kopf. Eine Art De-ja-veux Gefühl überkam sie. Nicht nur, dass sie sich sicher war, diesen Mann zu kennen, sie hatte auch das intensive Gefühl, diese Situation schon einmal in zumindest ähnlicher Weise durchlebt zu haben. Der Mann lächelte auf sie herab, dabei bildete sich ein Kranz kleiner Fältchen rund um seine grauen Augen. Eigentlich sah er ja ganz freundlich aus. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, begann sie fast augenblicklich sich zu entspannen.

"Hallo meine Kleine, ich bin froh, dass du wach bist und es dir, na ja zumindest den Umständen entsprechend, gut geht." Er sprach mit einer angenehmen fast hypnotischen Stimme und sah ihr beim Sprechen fest ins Gesicht.

"Ich bin Dr. Bennet und seit fast zwei Jahren dein behandelnder Arzt." Dr. Bennet, dieser Name brachte in ihr eine Saite zum Klingen, wie das Echo einer Erinnerung. 

"Kannst du dich an mich erinnern?", fragte er weiter. 

"Ich bin nicht sicher ... ich glaube schon.", antwortete sie unsicher.

"Schwester Judith sagte mir schon, dass du anscheinend unter einem eventuell temporären Gedächtnisverlust leidest.", fuhr er fort. "Aber vielleicht kannst du mir zumindest sagen, wie du heißt." 

"Mein Name ist Sophie.", antwortete sie ohne zu zögern, "Sophie Lientsang." Woher dieser Name kam wusste sie nicht. Er war auf einmal da und er fühlte sich richtig an. Sie sah, wie Dr. Bennet und Schwester Judith einen Blick wechselten, den sie nicht deuten konnte und sie begann unruhig zu werden.

"Stimmt etwas nicht?" Sie bemerkte selbst, wie ängstlich ihre Stimme klang, konnte jedoch gegen das Gefühl einer aufkeimenden Panik kaum ankämpfen. Dr. Bennet räusperte sich und berührte mit seiner Hand beruhigend ihren Oberarm. 

"Nun, Sophie, weißt du, ich glaube es ist das Beste, wenn ich dich zunächst einmal von deiner Fixierung befreie. Anschließend werde ich dich auf deine Station begleiten. Viele deiner Mitpatienten haben schon nach dir gefragt, sie machen sich große Sorgen um dich." Während er sprach machte er sich gleichzeitig an den Lederriemen, mit denen sie fixiert war, zu schaffen. Als erstes löste er die Fixierung, die ihren Kopf gehalten hatte, dann waren die Arme dran, anschließend die Beine und als letztes der Bauchgurt. Sie bemerkte, wie ihre Hände und Füße leicht zu kribbeln begannen, als das Blut wieder frei in ihnen zirkulieren konnte. Da wollte wohl jemand auf Nummer sicher gehen schoss es ihr durch den Kopf und sie bemerkte, wie sich ein hysterisches Kichern in ihrer Kehle zu sammeln begann. 

Sie schluckte hart und räusperte sich, dann holte sie tief Luft und zählte, während sie ausatmete, langsam bis fünf. Und tatsächlich gelang es ihr, den Drang zu kichern zu unterdrücken. Mit Hilfe von Schwester Judith setzte sie sich zunächst auf die Bettkante und wartete bis das erste Schwindelgefühl vorüber war.

"Meinst du, du kannst ein paar Schritte laufen?" Schwester Judith schaute sie fragend an, während sie gleichzeitig eine Hand auf ihr Handgelenk legte, um ihren Puls zu fühlen. Sophie schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dann nickte sie entschlossen. 

"Am besten schaust du nicht auf den Fußboden. Wenn dir schwindlig oder schlecht wird, sag frühzeitig Bescheid." riet Schwester Judith ihr. Als sie auf ihren Füßen stand, schwankte sie zunächst und griff haltsuchend nach der ausgestreckten Hand der Krankenschwester. Nach einigen Sekunden jedoch ließen die Schwindelgefühle schnell nach und sie lächelte Schwester Judith zögernd an. Sie sah an sich herab und ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nur eines dieser Krankenhaushemden trug, die hinten teilweise offen waren und schamhaft versuchte sie, ihre Blöße zu bedecken. Dr. Bennet verstand den Wink. Er deutete mit einer knappen Geste auf das Fußende des schmalen Bettes und bemerkte, dass sie dort ihre Kleidung finden würde. Schwester Judith könnte ihr beim Ankleiden behilflich sein, während er so lange vor der Tür warten würde. Sie fand am Fußende des Bettes saubere Unterwäsche, Socken, eine rote Baumwollhose und ein graumeliertes T-Shirt. Anstaltskleidung war ihr erster Gedanke. Nachdem sie sich angekleidet hatte, schlüpfte sie in ihre Turnschuhe und folgte Schwester Judith vor die Tür. Der Raum, in dem sie die Nacht verbracht hatte, lag am Ende eines etwa 10 Meter langen Ganges. Von ihr aus gesehen auf der rechten Seite des Ganges gab es drei Türen. Dr. Bennet, der tatsächlich vor der Tür gewartet hatte, erklärte ihr, dass sich in den Räumen auf der rechten Seite sein Büro, ein Therapieraum und ein Untersuchungsraum befänden, wobei der Untersuchungsraum bei Bedarf zu einer Art Krankenstation umfunktioniert werden könne. Während er sprach, zeigte Dr. Bennet jeweils auf die entsprechenden Türen. Auf der linken Seite befand sich eine breite Schwingtür mit zwei Flügeln. Dabei handele es sich um die Gemeinschaftsküche, in denen die gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen würden, führte er weiter aus. Die Schwingtüren hatten im oberen Bereich jeweils ein Sichtfenster und im Vorbeigehen konnte Sophie sehen, dass die Gemeinschaftsküche leer war. Wie spät es wohl sein mochte? Das Ende des Ganges führte in einen offenen Bereich mit mehreren Sitzgelegenheiten. Sophie sah mehrere Personen dort sitzen und verschiedenen Aktivitäten nachgehen. Es mochten etwa zwei Dutzend sein, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, alle in den identischen roten Baumwollhosen und grauen T-Shirts. Die Gespräche verstummten abrupt und die Szenerie wirkte beinahe wie eingefroren. Ihre Mitpatienten schauten zu ihr herüber. Teilweise einfach nur neugierig, teilweise beinahe ängstlich und schüchtern, ihrem Blick ausweichend. Eine andere Gruppe starrte sie unverhohlen mit offenem Mund an, wiederum andere beinahe feindselig. Als sie gerade begann, sich ob dieser Aufmerksamkeit unwohl zu fühlen, kam ihr Dr. Bennet zu Hilfe, der ihr eine Hand auf die Schultern legte. 

"Sophie ...", er machte eine kaum merkliche Pause, "...hat, wie ihr sicherlich alle wisst, die Nacht im ‚Raum der Stille‘ verbringen müssen. Anscheinend leidet sie unter einem momentanen Gedächtnisverlust. Bitte wundert euch nicht, wenn sie sich nicht sofort wieder an jeden von euch erinnert. Ich werde sie jetzt noch einmal mit ihrer Station vertraut machen und ihr anschließend ihr Zimmer zeigen. Dann ist es auch schon bald Zeit für das Mittagessen."

Während er sich schon wieder zum Gehen wandte, lächelte er ihr aufmunternd zu, und bedeutete Sophie ihm zu folgen.

 

Direkt gegenüber dem Gang, aus dem Sophie und Dr. Bennet kamen, lag das Schwesternzimmer, indem jetzt Schwester Judith mit zwei Pflegerinnen und einem kräftig aussehenden Pfleger mit Medikamenten, Patientenakten und Dokumentation beschäftigt war. Mit seiner großen Glasfront gewährte das Schwesternzimmer beinahe einen Rundumblick über den kompletten Stationsbereich. Am anderen Ende des Schwesternzimmers lag eine weitere Tür, ansonsten befanden sich in diesem Raum nur ein großer Schreibplatz, sowie Medikamenten- und Aktenschränke. Links und rechts von dem Platz, an dem Sophie stand, ging jeweils ein weiterer Gang ab, der in die jeweiligen Flügel mit den Schlafräumen führte. Dr. Bennet erklärte, während er schon nach links abbog, so dass Sophie Mühe hatte ihm zu folgen, dass die Station zwar gemischt, jedoch die Schlafräume streng nach Männern und Frauen getrennt seien. Es sei absolut verboten, sich gegenseitig in den Schlafräumen zu besuchen, jedoch könne man den Kontaktbereich vor dem Schwesternzimmer jederzeit nutzen. Er führte sie nach links, wo, wie er weiter ausführte, sich Sophies Schlafraum befände. Auf der rechten Seite gab es drei Türen, jede dieser Türen war im oberen Bereich verglast, so dass man auch in diese Zimmer hineinblicken konnte. Ihr Schlafraum war der mittlere, in welchem sich fünf Metallbetten befanden. Diese lagen nebeneinander auf der rechten Seite, gegenüber jeweils ein Metallspind, entsprechend der Anzahl der Betten. Alle Betten waren akkurat gemacht und mit identischer Bettwäsche bezogen. Die einzige persönliche Note in diesem Zimmer waren diverse persönliche Gegenstände, die sich auf den einzelnen Nachtschränken befanden, die jeweils neben den Betten standen sowie kleine bunte Kissen oder Stofftiere auf den Betten. Sophies Blick fiel auf den Schlafplatz direkt am Fenster, welcher allein dadurch aus der Reihe fiel, dass Nachtschrank und Bett keinerlei persönliche Gegenstände enthielten, wie zum Beispiel Fotos, Bücher oder Stofftiere. Sie fragte sich schon, welches wohl ihr Schlafplatz sei, als Dr. Bennet auch schon einladend auf das Bett am Fenster zeigte. Vielleicht sind meine Sachen nur im Schrank, damit sie nicht gestohlen werden konnten, solange ich nicht hier war. Da Dr. Bennet jedoch schon wieder im Begriff war, den Schlafraum zu verlassen, würde sie sich damit wohl oder übel zu einem späteren Zeitpunkt befassen müssen. 

 

Gegenüber den Schlafräumen gab es zwei weitere Türen. Auch diese Türen hatten, wie alle anderen Türen bisher auch, Sichtfenster. Hinter der ersten waren die Toiletten, insgesamt fünf Kabinen und hinter der zweiten Tür waren die Gemeinschaftsduschen. Ihr fiel auf, dass die Toilettenkabinen zwar links und rechts einen Sichtschutz hatten, jedoch nach vorne offen waren. Vor den Toilettenkabinen waren die Waschbecken mit den einzelnen Waschplätzen. Insgesamt gab es korrespondierend mit den Toilettenkabinen auch fünf Waschplätze. Neben den Waschbecken hingen je drei Handtücher, des Weiteren gab es neben jedem Waschbecken auch jeweils drei in die Wand eingelassene Fächer für die persönlichen Hygiene- und Kosmetikartikel. Die Gemeinschaftsduschen hingegen waren nichts weiter als ein großer Raum, in dem in drei Reihen die Duschköpfe von der Decke hingen. 

„Jeweils morgens und abends bekommt ihr Gelegenheit zu duschen. Morgens zwischen 07:00 Uhr und 07:30 Uhr und abends zwischen 19:00 Uhr und 19:30 Uhr. Die Zeiten sind festgelegt, da das Duschen leider nur unter Aufsicht stattfinden darf, wofür wir unsere Gründe haben.“ Während er sprach sah Dr. Bennet auf seine Uhr. 

„So, meine Liebe, ich werde dich jetzt mal wieder in die Obhut der Schwestern übergeben, ich selbst habe noch einiges zu erledigen.“

Sophie nickte stumm und folgte ihm zurück zu den Sitzgruppen. Bevor Dr. Bennet sie verließ, nickte er ihr noch einmal aufmunternd zu und lächelte kurz, bevor er mit eiligen Schritten in Richtung seines Büros ging. Ohne sich noch einmal zu ihr umzusehen schloss er sein Büro auf und verschwand durch die Tür.

 Sophie fühlte sich schlagartig im Stich gelassen und suchte hilfesuchend den Blick von Schwester Judith. Diese war jedoch weiterhin im Schwesternzimmer beschäftigt und auch von den anderen Pflegekräften schenkte ihr niemand Aufmerksamkeit. Sophie begann sich ausgesprochen unwohl zu fühlen. Schüchtern hielt sie sich zunächst am Rand des Gemeinschaftsbereiches auf, unschlüssig wohin sie sich wenden oder wohin sie schauen sollte. Verlegen nestelte sie am Saum ihres T-Shirts, den Kopf gesenkt. Aus den Augenwinkeln versuchte sie, sich unauffällig ein Bild zu machen. Die meisten Patienten waren mittlerweile wieder dazu übergegangen, sich mit ihren eigenen Dingen zu beschäftigen. Zumindest gaben sie dies vor, denn nach wie vor fühlte sie sich beobachtet und sie war sich sicher, dass es nicht nur freundliche Blicke waren, die sie streiften. An einem Tisch entdeckte sie einen Jungen und ein Mädchen in etwa ihrem Alter. Moment mal! In meinem Alter? Wie alt bin ich denn? 

Ihr Blick blieb an dem Pärchen hängen und sie fühlte den unbestimmten Drang, sich den beiden zu nähern. Anscheinend gab es da so etwas wie eine Zugehörigkeit, die sie sich in diesem Moment aufgrund ihrer fehlenden Erinnerung jedoch nicht erklären konnte. Da das Gefühl, sich diesen beiden jungen Leuten zugehörig zu fühlen, jedoch so spontan aus ihrem Inneren heraus entstanden war, beschloss sie, dieser Frage zunächst einmal nicht weiter nachzugehen. Unauffällig, aus halbgeschlossenen Lidern beobachtete sie die beiden jungen Leute. Sie waren etwa zwischen 18 und 20 Jahre alt, wobei das Mädchen ein wenig jünger zu sein schien als der Junge. Der Junge saß seitlich zu Sophie und hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet. Den Blick auf die Hände gesenkt, die Lippen zusammengepresst, machte er einen angespannten Eindruck. Fast wirkte es so, als strenge er sich an, nicht zu ihr herüber zu schauen. Das Mädchen saß im rechten Winkel zu dem Jungen und sprach angeregt auf ihn ein, woraufhin er mehrmals den Kopf schüttelte. Sophie seufzte und wollte sich gerade abwenden, als das Mädchen sie mit ernster Miene direkt ansah. Sophie versuchte sich an einem schüchternen Lächeln, welches das Mädchen zwar nicht erwiderte, sie jedoch mit einer Hand an den Tisch winkte. Unschlüssig sog Sophie die Luft ein, entschloss sich dann jedoch, der Aufforderung zu folgen. Als sie quer durch den Raum auf den kleinen Tisch zuging, schien die Spannung im Raum deutlich zuzunehmen. Sie spürte die Blicke, die ihr folgten, mehr als dass sie sie sah. Hier und da hörte sie ein aufgeregtes Flüstern, war jedoch nicht in der Lage, das jeweils Gesagte zu verstehen. An dem Tisch angekommen, entschloss sie sich, aus dem Bedürfnis heraus sich klein zu machen, nicht erst auf die Aufforderung zu warten, sich zu den beiden zu setzen. Sie entschied sich für den Stuhl gegenüber dem Mädchen und neben dem Jungen und kehrte auf diese Weise ihren Mitpatienten den Rücken zu. Sofort machte sich ein Gefühl in ihr breit, dass dies ein Fehler war. Etwas befand sich in diesem Raum, etwas, dass ihr feindlich gesonnen war. Sie bemerkte, wie sich ihr Rücken versteifte und ein leichtes Kribbeln überlief sie. Leider würde sich dieser Fehler nicht korrigieren lassen, ohne erneut, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. 

„Hallo“, sagte sie und lächelte schüchtern, „ich heiße Sophie, aber das wisst ihr ja schon.“

Der Junge sog scharf die Luft ein, sah sie aber immer noch nicht an. Sie bemerkte, dass seine Hände, die weiterhin auf der Tischplatte lagen, zu Fäusten geballt waren. Die Fingerknöchel traten weiß hervor. Da er ansonsten nicht weiter reagierte, wandte sie sich nun direkt an das Mädchen, welches sie weiterhin mit diesem unergründlichen ernsten Gesichtsausdruck betrachtete. 

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Die Gesichtszüge des Mädchens schienen sich augenblicklich zu entspannen und die Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, das die Augen jedoch nicht zu erreichen schien. 

„Nein, nein, schon gut“, entgegnete sie, „wir sind nur alle ein wenig nervös, äh wegen dieser Vorkommnisse.“  Bei diesen Worten kam es Sophie vor, als durchfuhr es sie wie ein Blitz. Da war etwas, ganz tief. Eine tief vergrabene Erinnerung, etwas, dass sie eigentlich wissen müsste.

„Welche Vorkommnisse?“ fragte sie atemlos, fast flüsternd. „Hier ist etwas passiert, nicht wahr?“

„Nichts!“ schaltete sich nun der Junge in scharfem Ton ein, dabei sah er jedoch nicht Sophie an, sondern wandte den Blick nicht von dem anderen Mädchen. Es war, als würden sich die beiden ohne Worte verständigen. 

Die Spannung zwischen dem Jungen und dem Mädchen war geradezu greifbar. Sophie bemerkte wie ihr innerlich heiß wurde und eine irrationale Wut in ihr aufstieg. Diese wortlose Verbundenheit dieses Pärchens störte sie. Sie fühlte sich ausgeschlossen und ein Gefühl der Eifersucht breitete sich in ihr aus. Hey. Was ist nur mit mir los? Dann jedoch schienen die Beiden zu einer Einigung gekommen zu sein und der Gedankenfetzen flog davon. Das Mädchen sah sie direkt an und lachte dann kurz auf. 

„Ach weißt du, eigentlich nichts Besonderes, nur ein Haufen Gerüchte, über die sich hier im Moment gerade heiß geredet wird. Übrigens, ich bin Emily.“ Während sie dies sagte, hielt sie Sophie die ausgestreckte Hand entgegen. 

„Freut mich.“ murmelte diese, während sie die Hand ergriff. Emily deutete auf den Jungen neben sich. 

„Das ist mein Bruder Samuel. Normalerweise ist er ganz nett. Na ja, du wirst ihn schon noch besser kennen lernen.“

„Das hoffe ich sehr.“ entgegnete Sophie und hielt dann erschrocken die Luft an. 

Hatte sie das wirklich gesagt? Diese Amnesie musste ihr komplett das Hirn vernebelt haben. Mein Gott wie peinlich. 

Jedenfalls hatte sie nun Samuels Aufmerksamkeit. Er wandte sich zu ihr um und sah sie zum ersten Mal direkt an. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Sein Blick schien Sophie bis ins Mark zu erschüttern und sie hatte einen Moment das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Herzschlag setzte eine Sekunde aus, um anschließend in unkontrolliertem Stakkato zu hämmern. Er hatte sehr feine, fast feminine Gesichtszüge, sein Blick jedoch war hart und schien den Ihren quasi festnageln zu wollen. Innerlich begann sie sich zu winden und sie wünschte fast, er würde sie für einen Moment loslassen und hatte doch gleichzeitig auch Angst davor. 

Seine Mundwinkel begannen zu zucken und verzogen sich schließlich zu einem kleinen Lächeln. Schlagartig wich die Spannung und sie atmete hörbar aus. 

„Freut mich auch dich kennen zu lernen.“ sagte er mit einem leicht ironischen Unterton, dabei hielt auch er ihr die Hand entgegen und deutete eine Verbeugung an. Sie ergriff die ausgestreckte Hand. Diese fühlte sich warm und trocken an, der Händedruck war fest und angenehm. Bevor sie antworten konnte, ließ er sie jedoch schon wieder los und stand abrupt auf. 

„Los kommt, wir sollten langsam zum Essen gehen“, murmelte er während er sich umdrehte und zielstrebig den Gang in Richtung Gemeinschaftsküche ging, ohne sich dabei noch einmal zu ihnen umzusehen. Glücklich stellte Sophie fest, dass er sie in die Aufforderung miteingeschlossen hatte und stand langsam auf. 

„Bist du ok?“ wurde Sophie in dem Moment von der Seite angesprochen und auf diese Weise aus ihrem fast traumartigen Zustand gerissen. Sie drehte sich widerstrebend zu der Stimme um und sah direkt in das Gesicht von Emily, die sie prüfend anschaute. 

„Ja, ... ja klar. Komm, lass uns zum Mittagessen gehen.“ antwortete sie beinahe abwesend und begann, sich gleichzeitig in Bewegung zu setzen.

„Hey, nicht so schnell. Warte auf mich!“ rief Emily ihr hinterher, „Ich dachte, wir wollten zusammen essen.“

„Dann komm, beeil dich.“ rief Sophie im Weitergehen über ihre Schulter zurück. 

Ich will ihn nicht verlieren! Ich darf ihn nicht verlieren! Hämmerte es gleichzeitig in ihrem Kopf.

In demselben Moment erhielt Sophie einen harten Schlag von vorne an ihre Schulter, der sie förmlich herumschleuderte. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden, dabei stieß sie sich den Kopf hart an einer Tischkante. Stöhnend lag sie auf dem Boden und versuchte sich zu sammeln, als ihr jemand mit einer Hand an den Hals griff und ihr die Kehle zudrückte. Sie blickte in das Gesicht einer Frau, nur wenige Jahre älter als sie selbst. Grüne Katzenaugen starrten hasserfüllt in ihr Gesicht. 

„Da hat Schneewittchen also ihr Gedächtnis verloren, ja? Erinnerst dich auf einmal an gar nichts mehr.“ 

Sophie versuchte panisch die Hand von ihrer Kehle zu bekommen, sie grub ihre Fingernägel in das Fleisch der anderen Frau, aber diese schien das noch nicht einmal zu bemerken. Schwarze Punkte tanzten schon vor Sophies Augen und röchelnd trat sie ziellos mit den Beinen um sich. Die Frau warf einen schnellen Blick über ihre Schulter zurück, dann wandte diese sich wieder Sophie zu. 

„Ich werde schon dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst. Sophie.“ zischte sie, dabei spie sie ihren Namen förmlich aus. So schnell wie der Angriff erfolgt war, war die Hand dann auch wieder von ihrer Kehle verschwunden und Sophie bekam wieder Luft. Gierig sog sie den Sauerstoff in ihre Lungen.

„Was ist hier los?“ erklang eine Stimme aus dem Hintergrund und der Tumult schien sich aufzulösen. Eine Krankenschwester in ihrer Schwesterntracht tauchte im Hintergrund auf.

Die Frau, die sie angegriffen hatte, antwortete: „Der kleinen Sophie ist wohl ein wenig schwindelig geworden, ich wollte ihr gerade wieder aufhelfen.“ Dabei nahm sie Sophies Hand, mit der anderen fasste sie ihr in den Rücken und begann ihr beim Aufstehen zu helfen. „Nicht wahr, so war es doch?“ Die Frau lächelte, während sie das fragte, dabei drückte sie jedoch ihre Hand so schmerzhaft, dass Sophie nach Luft schnappte.

„Es,... es ist alles in Ordnung, wirklich. Mir … war nur schwindelig und … ich bin wohl hingefallen.“

Die Krankenschwester schaute noch einmal misstrauisch in die Runde, gab sich dann jedoch augenscheinlich mit der Erklärung zufrieden. 

Dann sagte sie: „Nun gut, dann begeben sie sich jetzt bitte alle zum Mittagessen in den Speisesaal. Oder möchtest du dich vielleicht lieber ein wenig hinlegen Sophie?“

„Nein danke, es geht schon wieder.“

Die Dunkelhaarige machte sich als erstes auf den Weg, drehte sich aber noch einmal zu Sophie um und deutete mit der Hand eine Geste an, indem sie mit der Handkante an ihrem Hals entlangfuhr und auf diese Weise das Aufschneiden der Kehle simulierte. Dann lächelte sie beinahe liebenswürdig, zwinkerte ihr noch einmal verschwörerisch zu und verschwand durch die Schwingtüren. Sophie bekam weiche Knie und sie bemerkte wie ihre Hände zitterten. „Mein Gott, wer war das?“ wandte sie sich mit zittriger Stimme an Emily, die auf sie gewartet hatte. 

„Ihr Name ist Dana,“ antwortete diese, „sie war mal Lehrerin. Vor einem Jahr hat sie an ihrer Schule förmlich ein Blutbad angerichtet. Nimm dich vor ihr in Acht, die hat dich anscheinend im Visier. Am besten siehst du zu, dass du ihr nicht alleine begegnest. Los, lass uns jetzt gehen, sonst bekommen wir nichts mehr zu essen ab.“

 

Als sie die Gemeinschaftsküche betraten, suchte Sophie den Raum augenblicklich nach Samuel ab. Insgesamt gab es fünf Tische mit je sechs Plätzen. Als sie Samuel entdeckte musste sie jedoch enttäuscht feststellen, dass an seinem Tisch kein Platz mehr frei war. Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Samuel genau in diesem Moment auf und blickte ihr direkt in die Augen. Wieder schien die Welt für einen Moment still zu stehen und sein Blick schien den ihren förmlich festzuhalten. Dann wendete er sich betont gleichgültig ab und der Person neben sich zu und begann mit dieser ein angeregtes Gespräch. Sophie überlief es heiß und kalt als sie sah, dass es sich ausgerechnet um diese Dana handelte. Die beiden steckten beinahe verschwörerisch die Köpfe zusammen. Dana kicherte albern und legte ihm dabei vertraulich die Hand auf den Arm. Sophie fühlte sich verraten und enttäuscht. Spielten die beiden ein Spiel mit ihr? Hatten sie diese Attacke gemeinsam ausgeheckt und machten sich nun auch noch über sie lustig? Was hatten sie vor und welche Rolle spielte Emily in dieser Angelegenheit? Konnte sie überhaupt irgendjemandem hier vertrauen? Hass überkam sie und sie blieb weiter wie angewurzelt stehen und starrte auf das Bild der beiden, die sich in ihrem Zwiegespräch anscheinend nicht stören ließen. Dann bemerkte auch Dana sie. Sie sah auf und leckte sich provozierend lasziv über die Lippen. Bevor Sophie jedoch eine Chance hatte zu reagieren, berührte Emily sie am Arm. 

„Dort an diesem Tisch sind noch zwei Plätze frei, lass uns da essen.“ dabei deutete Emily mit einer Hand auf einen Tisch am anderen Ende des Raumes. Sophie fühlte sich wie aus einer Trance erwacht, begann aber dennoch sich in Bewegung zu setzen und folgte Emily an den von ihr zugewiesenen Tisch. Während des Essens, das zugegebenermaßen gar nicht mal so übel war, plapperte Emily, die direkt neben ihr saß, pausenlos auf Sophie ein. Diese hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu und versuchte stattdessen die vielen Eindrücke zu verarbeiten, die auf sie einstürmten. Gleichzeitig musterte sie verstohlen ihre Tischgenossen. Ihr gegenüber saß ein etwa 50-jähriger dicklicher Mann, der mit dümmlichem Gesichtsausdruck sein Essen fixierte, während er dieses förmlich in sich hinein schaufelte. Dabei hielt er mit der linken Hand seine Schüssel umklammert, als hätte er Angst, jemand anderer könnte sie ihm wegnehmen. Neben ihr an der Stirnseite des Tisches saß ein Mann von etwa 30 Jahren. Seine schulterlangen strähnigen Haare standen wirr von seinem Kopf ab und er schaute sich immer wieder unruhig im Raum um. Seine dürren Gliedmaßen schienen dabei ständig in Bewegung zu sein, selbst wenn er einfach nur auf seinem Stuhl saß. 

Kein Wunder das du so dünn bist, schoss es ihr durch den Kopf.

Gegenüber von Emily saß ein weiterer Junge, der etwa in ihrem Alter zu sein schien. Er hatte ein rundes Mondgesicht umrahmt von kurzen dunklen Haaren. Während die beiden anderen Männer gegenüber und links von Sophie insgesamt jedoch eher wenig Notiz von ihr nahmen, starrte dieser Junge sie unverhohlen mit offenem Mund an. 

Fang bloß nicht an in dein Essen zu sabbern dachte sie. 

Einen Moment hielt sie dem bewundernden, ja, fast gierigen Blick stand, dann schweiften ihre Augen zu der Frau an der Stirnseite des Tisches zwischen Emily und dem Jungen, der mittlerweile sein Essen anscheinend vollständig vergessen hatte. Auch diese schien sich mehr für Sophie als für ihr Essen zu interessieren. Das Alter der Frau war schwer auszumachen, jedoch schätzte Sophie sie auf etwa Mitte bis Ende dreißig. Auch sie war sehr dünn und wirkte insgesamt verlebt und müde, was sie wahrscheinlich älter aussehen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und wirkten riesig in dem Gesicht, dass eher einem Totenschädel glich. Neugierig, aber nicht unfreundlich schaute die Frau ihr offen in die Augen. Sophies Aufmerksamkeit wurde auf mehrere wulstige Narben am Hals der Frau gelenkt und sie fasste sich unwillkürlich an ihre eigene Kehle, wo sie noch immer die Hände spürte, die ihr noch vor wenigen Minuten die Luft abgeschnürt hatten. Die Frau verzog die Mundwinkel zu einem kleinen ironischen Lächeln, welches jedoch nicht die Augen erreichte und reckte ihr Kinn in die Höhe, wie um Sophie einen noch besseren Blick auf ihren geschundenen Hals zu ermöglichen. Dann schüttelte sie langsam, fast ermahnend den Kopf, um sich anschließend dem Essen zuzuwenden und auf diese Weise die Verbindung zwischen ihnen zu lösen. Sophie, die gar nicht bemerkt hatte, dass sie während dieser stummen Zwiesprache anscheinend die Luft angehalten hatte, stieß diese aus und fühlte sich fast wie aus einer Umklammerung befreit. Nach und nach nahm sie die Geräusche um sich herum wieder wahr und auch Emily hatte anscheinend noch nicht den Faden verloren. Sophie nahm sich vor, Emily so bald wie möglich nach dieser Frau zu fragen, die diese unheimliche Gabe zu haben schien, zu anderen Menschen eine derart intensive mentale Verbindung herzustellen.

„ … haben wir Einzeltherapie. Alle anderen dürfen sich beschäftigen, womit sie möchten oder arbeiten im Garten, in der Wäscherei und so weiter.“ Sophie bemühte sich, sich auf den Redeschwall von Emily zu konzentrieren. Diese hatte es irgendwie geschafft, trotz ihres ununterbrochenen Geredes ihren Teller zu leeren. Eine Fähigkeit, die sie wahrscheinlich im Laufe ihres Lebens geradezu perfektioniert hatte. 

„Äh, was hast du gerade gesagt?“ fragte Sophie nach, die das unbestimmte Gefühl beschlich, einige wichtige Informationen verpasst zu haben. Aber Emily nahm ihr die Frage anscheinend nicht übel, denn sie antwortete ihr geduldig: 

„Am Nachmittag haben wir immer Einzeltherapie. Natürlich nur diejenigen, die es betrifft, das heißt, diejenigen, die einen festen Termin haben. Alle anderen dürfen sich beschäftigen womit sie Lust haben. Für diejenigen die nicht arbeiten, können die Nachmittage deshalb oft ganz schön lang werden. Samuel und ich arbeiten beide in der Gärtnerei. 

Das ist perfekt, da wir dadurch gleichzeitig auch Gelegenheit haben, an die frische Luft zu kommen.“

„Meinst du, ich könnte auch in der Gärtnerei arbeiten? Ich weiß sonst gar nicht, was ich mit mir anfangen soll, wenn ihr beide nicht da seid.“ 

Die Frage schien Emily unangenehm zu sein. Sophie sah, dass diese sich sichtlich wand und um eine Antwort rang. Schließlich murmelte sie ohne jedoch Sophie dabei anzusehen: 

„Ich glaube nicht, dass sie dich wieder im Garten arbeiten lassen werden. Aber du kannst ja trotzdem mal nachfragen.“

Das musste Sophie erst einmal verdauen. Hatte dieser ominöse Vorfall, den Emily vor dem Essen erwähnt hatte, eventuell mit der Arbeit im Garten zu tun? Verdammt, dass sie sich aber auch so gar nicht erinnern konnte. Immer dann, wenn sie es versuchte, war es, als würde sie vor eine Betonmauer laufen. Wie dem auch sei, sie würde sich nicht ausgerechnet vor Emily die Blöße geben und anfangen zu betteln. Also zuckte sie nur mit den Schultern und gab vor, als hätte sie mittlerweile das Interesse an diesem Thema verloren.

 

So nach und nach löste sich die Tischgesellschaft auf und auch Sophie stand auf, um ihr Geschirr in die kleine, dem Speisesaal direkt angeschlossene Küche zu bringen. Anscheinend wechselte man sich hier mit dem Küchendienst ab, denn zwei ihrer Mitpatienten machten sich unverzüglich an die Arbeit und begannen abzuwaschen. Der Rest verließ den Speisesaal und Sophie stellte fest, dass sowohl Samuel, als auch Emily verschwunden waren. Da sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte, und auch, weil sie nicht die geringste Lust hatte, sich von Dana abpassen zu lassen, beschloss sie, sich auf ihr Zimmer zu begeben. Ein wenig Ruhe und Abgeschiedenheit würden ihr wahrscheinlich guttun. Zum einen um ihre Gedanken zu sortieren und die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten, zum anderen aber auch um sich ihrer Gefühle klar zu werden, die zum Beispiel Samuel in ihr auslöste. So unauffällig wie nur möglich verließ sie den Speisesaal und begab sich den Gang hinunter, vorbei am Schwesternzimmer und dann nach links in ihren Schlafsaal. Dieser war noch leer, die anderen schienen anderweitig beschäftigt zu sein. Sie setzte sich auf ihr Bett direkt am Fenster und bemerkte erst jetzt, die bleierne Müdigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Ein wenig Schlaf würde wahrscheinlich nicht schaden. Bei all dem was zurzeit auf sie einstürmte, musste sie mit ihren Kräften haushalten. Als sie ihr Kissen aufschüttelte, um sich hinzulegen, fiel ihr am Kopfende ein Schriftzug auf, der anscheinend mit einem scharfen Gegenstand in das Metall eingeritzt worden war. Erinnere dich! Und Stephanie war hier Als sie das las, war ihr, als hätte ihr jemand die Faust in den Magen gerammt. Stephanie. Wer zum Teufel war diese Stephanie? Jemand, den sie kannte, da war sie sich sicher. Wie sollte man wohl sonst diese heftige Reaktion auf diesen Namen erklären. 

‚Wir sind nur alle ein wenig nervös wegen dieser Vorkommnisse.‘

Die Erinnerung an den Satz, den Emily im Gemeinschaftsraum zu ihr gesagt hatte, blitzte plötzlich in ihr auf. Sie wusste, dass Emily ihr etwas Wichtiges hatte mitteilen wollen, bevor sie von Samuel am Weiterreden gehindert worden war. Frustriert schlug sie mit der Faust auf ihr Kissen. Das Gefühl, dass alle außer ihr selbst über diese ominösen Vorkommnisse Bescheid wussten, nagte an ihr. Sie atmete tief durch, dann streckte sich auf ihrem Bett aus und schloss die Augen, wie um sich besser konzentrieren zu können. 

 

Nach und nach bemerkte sie, wie sie ruhiger wurde. OK. Sie hatte nun einen Anhaltspunkt, etwas bei dem sie ansetzen konnte, da war sie sich sicher. Stephanie. Sie lauschte in sich hinein und ließ den Klang des Namens auf sich wirken. Wer war diese Stephanie? Hatte sie zuvor das Bett bewohnt, in dem Sophie nun schlief? Und, viel wichtiger, wo war Stephanie jetzt? Hatte man sie entlassen? Wenn ja, was hatte Stephanie dann mit den Vorkommnissen zu tun, über die niemand so wirklich mit ihr reden wollte? 

‚Erinnere dich!‘ 

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass diese Mahnung allein für sie selbst, für Sophie bestimmt war. Aber wer hatte sie hinterlassen? Stephanie? Wer sollte es auch sonst gewesen sein? ‚Stephanie war hier‘ Aber wo war sie jetzt? Hatte man sie verlegt? Benötigte sie vielleicht Hilfe? Hatte Sophies Gedächtnisverlust eventuell mit Stephanie und ihrem Verschwinden zu tun? Lebte sie überhaupt noch? Stephanie. Sie schien eine Art Schlüssel zu sein. Sophie spürte, dass es eine enge Verbindung zwischen diesem Mädchen und ihrem eigenen Schicksal gab. Vielleicht waren sie ja sogar Freundinnen gewesen. Und um Stephanie drehten sich auch diese ominösen Vorkommnisse, das spürte Sophie ganz tief in ihrem Inneren, es war fast wie eine verschüttete Erinnerung. Sophie beschloss, Emily bei der nächsten Gelegenheit nach Stephanie zu fragen. So langsam würde sie sich wohl eine Liste all der Fragen machen müssen, die sie mit Emily besprechen wollte. Bis es jedoch so weit war, würde sie ihren ursprünglichen Plan umsetzen und zunächst einmal ein wenig schlafen und Kräfte sammeln. Nur so könnte sie es schaffen wachsam zu bleiben, um ihre Feinde im Auge zu behalten.


Kapitel 3

Kapitel 4



Stimmen durchbrachen die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit und Sophie tauchte langsam auf aus einem tiefen watteweichen Schlaf zurück in die Realität. Sie benötigte einige Sekunden, um sich zu orientieren, bis sie sich in einem Bett wiederfand, neben sich einen schmucklosen Nachtschrank, dahinter ein Fenster. Diesmal setzte die Erinnerung jedoch schlagartig ein. Sie war in einem Krankenhaus, offenbar ein Krankenhaus für psychisch Gestörte. Denn niemand hier, sie selbst eingeschlossen, schien an einem körperlichen Gebrechen zu leiden. Dafür liefen so einige, sie selbst wahrscheinlich ebenfalls eingeschlossen, höchst skurrile Gestalten hier herum.

Die Stimmen kamen näher, fröhliche Stimmen. Lachen. Nicht mehr lange und sie würden die Tür ihres Schlafsaales erreicht haben. Kaum war dieser Gedanke aufgetaucht, da öffnete sich auch schon die Tür zum Schlafsaal. 

„Ach, hier hast du dich also versteckt. Ich hatte mich schon gefragt, wo du so plötzlich abgeblieben warst.“ wurde Sophie von einer fröhlich plappernden Emily aufgeschreckt. 

„Ich war müde,“ antwortete diese „wahrscheinlich noch die Nachwirkungen von der Spitze, die mir Schwester Judith letzte Nacht verabreicht hat.“ 

„Das Abendessen hast du jedenfalls verpasst.“ entgegnete Emily. Sophie kam jedoch nicht mehr dazu zu antworten, denn hinter Emily betrat eine weitere Person den Schlafsaal. Es war die Frau mit den Narben am Hals, die beim Mittagessen an ihrem Tisch gesessen hatte. Neugierig blickte Sophie der Frau entgegen. Diese ließ die Musterung einige Sekunden über sich ergehen, dann drehte sie sich weg und wandte sich ihrem Spind zu. 

 Abermals öffnete sich die Tür und eine ältere etwas pummelige Frau betrat den Schlafsaal, an der Hand führte sie ein Mädchen, welches etwa im selben Alter wie Emily und Sophie zu sein schien. Nun schienen sie also komplett zu sein. Gott sei Dank schien Dana einem anderen Schlafsaal zugeteilt zu sein. Andernfalls hätte Sophie nachts wahrscheinlich auch kein Auge zu bekommen. Das Mädchen, welches in Begleitung der älteren Frau zuletzt den Schlafsaal betreten hatte, schlich sich ängstlich wimmernd hinein, dabei hielt sie die Augen gesenkt. Den freien Arm hielt sie schützend vor ihrem Bauch, die andere Hand hielt die Hand der älteren Frau fest umklammert. Diese murmelte beruhigende Worte, die Sophie jedoch nicht verstand. Sophie setzte sich auf die Bettkante und beobachtete die Szene neugierig. Dann wandte sie sich freundlich an das junge Mädchen: „Hallo, ich heiße Sophie.“ Erschrocken wimmernd klammerte sich das Mädchen nun mit beiden Händen an der älteren Frau fest. Es wirkte fast, als würde sie förmlich in sie hineinkriechen wollen. Die ältere Frau sprach leise auf das Mädchen ein und versuchte diese zu beruhigen. Sophie stand auf und näherte sich langsam der Szenerie. Auf dem Weg hielt Emily sie halbherzig am Arm fest. 

„Sophie, lass lieber.“ Aber Sophie bemerkte Emily kaum. Sie streckte beruhigend ihren Arm in Richtung Mädchen aus. 

„Hey, du brauchst vor mir keine Angst zu haben. Ich tue dir doch nichts.“ Anscheinend hatten die Worte jedoch nicht die gewünschte Wirkung, denn das Mädchen geriet geradezu in Panik. Das Wimmern steigerte sich zu einer Art Heulen und sie versuchte verzweifelt sich hinter der älteren Frau zu verstecken. 

Diese drehte sich abrupt zu Sophie um und fuhr sie in scharfem Ton an: „Siehst du nicht, dass du Gretchen Angst machst. Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten und lass uns in Ruhe. Du bringst doch nichts als Unglück. Also verschwinde!“ 

Erschrocken blieb Sophie wie angewurzelt stehen, den Arm immer noch ausgestreckt. Mit einer so unfreundlichen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. 

„Ich wollte doch nur helfen, ich meine, ich tue euch doch …“ 

„Hau ab!!“ wurde sie von der Frau jedoch unwirsch unterbrochen, bevor diese sich endgültig umdrehte und das weinende Mädchen tröstend in den Arm nahm. Hilfesuchend sah sich Sophie nach Emily um, diese zuckte jedoch nur resigniert mit den Schultern. 

„Zeit zu duschen.“ meldete sich nun auch die Narbenfrau zu Wort und löste auf diese Weise die Spannungen, die sich in den letzten Minuten in dem Raum aufgebaut hatten. Vor Sophie blieb sie stehen und schien kurz zu überlegen. Dann streckte sie ihr kurzentschlossen die Hand entgegen. 

„Ich bin übrigens Hannah und die beiden, das sind Gretchen und Molly.“ „Freut mich.“ murmelte Sophie kleinlaut und nahm die Hand der Frau. Nach einem weiteren prüfenden Blick auf Sophie drehte Hannah sich dann endgültig um und ging durch die Tür in Richtung Duschraum. Sophie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Emily stand direkt hinter ihr. „Mach dir nichts draus,“ sagte sie tröstend. Bei diesen Worten stieß die ältere Frau, mit dem Namen Molly, ein entrüstetes Schnauben aus, würdigte Sophie jedoch darüber hinaus keines Blickes. Emily seufzte resigniert. 

„Ich geh jetzt auch duschen. Kommst du mit?“ fragte Emily über die Schulter und war nur wenige Sekunden später schon halb aus der Tür. Sophie gab sich einen Ruck und nickte schließlich. Sie nahm sich Handtücher und einen Bademantel aus ihrem Spind und folgte Emily kurz darauf in Richtung Duschraum.

 

Als Sophie den Duschraum betrat, sah sie durch die Dampfschwaden etwa ein halbes Dutzend nackter Frauen unter den Duschköpfen stehen. Direkt an der Tür, in der Ecke saß eine der beiden Krankenschwestern auf einem Stuhl, die sie zuvor schon mit Schwester Judith im Dienstzimmer gesehen hatte, um das Duschen zu beaufsichtigen. Es war dieselbe Krankenschwester, die Sophie vor dem Mittagessen schon beigestanden hatte, als diese von Dana angegriffen worden war. Sophie entledigte sich ihrer Kleidung und hängte sie an einen Haken an der Wand, Bademantel und Handtuch hängte sie an den Haken direkt daneben. Anschließend suchte sie sich einen freien Duschkopf und begann sich abzubrausen. Plötzlich spürte sie die Wärme eines Körpers dicht hinter sich. Ihr Rücken versteifte sich und sie hielt mitten in der Bewegung inne. Eine Hand griff ihr von hinten in die langen Haare und zog ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten. Sophie stöhnte auf vor Schmerzen und griff instinktiv mit ihren Händen an ihren Hinterkopf, um den Griff um ihre Haare zu lösen. 

„Wie es aussieht hast du ja anscheinend gar keine Angst, mir den Rücken zu zudrehen Schneewittchen. Wenn das nicht mal ein großer Fehler war.“ flüsterte eine Stimme von hinten so dicht an ihrem Ohr, dass sie den Atem in ihrer Ohrmuschel spüren konnte. 

„Dana.“ stieß Sophie tonlos hervor. 

„Ganz recht,“ antwortete diese leicht amüsiert, immer noch mit ihren Lippen dicht an Sophies Ohr. Der Griff in Sophies Haare wurde fester und Sophie bemerkte, wie ihr Oberkörper unangenehm nach hinten gebogen wurde. Nicht mehr lange und sie würde das Gleichgewicht verlieren. Hilfesuchend sah sie sich im Raum um, aber die anderen schienen so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Szene gar nicht zu bemerken schienen. Die junge Krankenschwester, die eigentlich zur Beaufsichtigung eingesetzt war, saß auf ihrem Stuhl und machte Kaugummiblasen, während sie sich die Nägel feilte. 

Darüber hinaus schienen die Dampfschwaden im Duschraum immer dichter zu werden. 

„Da hast du also gedacht, du kannst nach allem was passiert ist, einfach daherkommen und dich wieder an Sam heranmachen. Aber ich warne dich. Lass die Finger von ihm. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.“ zischte ihr Dana in das Ohr. Sophie bemerkte etwas Feuchtes an ihrem Ohrläppchen, als Dana mit ihrer Zunge an ihrem Ohr entlangfuhr, dann zog diese mit einem kräftigen Ruck an Sophies Haaren, so dass sie endgültig das Gleichgewicht verlor und schmerzhaft auf den Rücken krachte. Die Luft entwich schlagartig aus Sophies Lungen und für einen Moment tanzten Sterne vor ihren Augen. Als Sophie die Augen aufschlug, war Dana verschwunden und von den anderen im Raum schien niemand die erneute Attacke bemerkt zu haben. Ungerührt schäumten sie sich weiterhin ein, wuschen ihre Haare oder trockneten sich ab. Auch die Krankenschwester saß immer noch Kaugummi kauend und Nägel feilend auf ihrem Stuhl. Langsam stand Sophie auf, als sie plötzlich durch die Dampfschwaden im Duschraum ein Mädchen entdeckte, dass ihr auf eine seltsame Art und Weise auffiel. Das Mädchen bewegte sich auf eine merkwürdige ungelenke und abgehackte Art und Weise. Sophie lief ein Schauer über den Rücken. Irgendetwas schien mit dem Mädchen nicht zu stimmen. Sophie schloss kurz die Augen und rieb sich das Wasser aus dem Gesicht. Als sie die Augen wieder öffnete stand das Mädchen direkt vor ihr. Sophie wich erschrocken zurück. Wie war das Mädchen so schnell zu ihr gekommen? Sie hatte die Augen doch allerhöchsten 1 bis 2 Sekunden geschlossen gehalten. Anders als bei Dana schien eine Kälte von dem Körper auszugehen. Das Mädchen stand dicht vor ihr und sah ihr direkt in die Augen, dabei fiel Sophie auf, dass die Augen des Mädchens keine Iris hatten, sie waren pechschwarz. Sophie japste erschrocken nach Luft. Dann legte das Mädchen seinen Kopf in einer völlig unnatürlichen und abgehackten Bewegung schief. Es streckte seine Hand aus und zeigte mit einem Finger anklagend auf Sophie. Es öffnete seinen Mund und riss diesen weit auf, fast wirkte es, als gäbe es keine Verbindung zwischen dem Ober- und dem Unterkiefer, soweit klafften die Lippen auseinander. Dabei entblößte das Mädchen seine schwarze Zunge, die wie ein wabernder Fremdkörper aus der Mundhöhle ragte. Dann fing es an zu schreien, in einer derart schmerzhaften und unnatürlichen Tonlage, dass Sophie sich die Ohren zuhalten musste. Das Schreien hielt an und schien kein Ende zu nehmen.

„Sophie. Sophie. Ist alles in Ordnung? Mein Gott, was ist denn passiert? Du hast uns ja alle zu Tode erschreckt.“ 

Langsam wurde sich Sophie der Stimmen um sie herum gewahr. Sie spürte zwei Hände, die nach ihren Handgelenken griffen und ihre Arme sanft nach unten drückten, da sie ihre Hände immer noch fest auf die Ohren gepresst hielt. Das Schreien hielt weiterhin an und wurde nun, da die Ohren ungeschützt waren, nahezu unerträglich. 

„Sophie. Nun beruhige dich doch mal. Ich bin es Emily.“ Plötzlich wurde sich Sophie bewusst, dass es ihre eigenen Schreie waren, die sie wahrnahm, aber ihr Entsetzen war nach wie vor so groß, dass sie einfach nicht aufhören konnte. Mein Gott was war das? Hatten die anderen es auch gesehen? War das … vielleicht … Stephanie? Das Gesicht war Sophie jedenfalls bekannt vorgekommen. Nur, war dieses auf eine Art und Weise entstellt gewesen, dass sie es nicht einordnen konnte. Eine resolute Stimme unterbrach plötzlich den kleinen Tumult. 

„Meine Damen, ich möchte, dass alle bis auf Sophie den Duschraum verlassen. Bitte nehmen Sie Ihre Kleidung und Bademäntel und begeben Sie sich umgehend auf ihre Zimmer. Bitte Emily, Sie auch, ich übernehme nun.“ Es war die Krankenschwester, die zuvor auf ihrem Stuhl gesessen hatte. Sophie sah, dass auf dem Namensschild der Krankenschwester der Name Linda stand. Sie ließ sich von Schwester Linda aufhelfen und zu dem Haken führen, an dem sie ihre Kleidung aufgehängt hatte. Dort zog sie ihren Bademantel an. 

Mittlerweile zitterte Sophie am ganzen Körper, ob vor Kälte oder vor Entsetzen konnte sie in diesem Moment selbst nicht einordnen. 

„Hör zu, ich werde Dr. Bennet holen. Vielleicht kann er dir etwas geben, damit du schlafen kannst. Du wartest hier, ich bin sofort wieder da.“

„Nein, bitte. Lassen Sie mich hier nicht allein.“ wimmerte Sophie und streckte hilfesuchend ihre Hand nach der Schwester aus. 

„Es wird nicht lange dauern.“, versicherte Schwester Linda beschwichtigend. Damit drehte sie sich um und ging mit beschwingten Schritten den Gang hinunter. Sophie stand an der Tür und beobachtete, wie der wippende blonde Pferdeschwanz um die Ecke verschwand. Sophie schloss die Tür und lehnte sich im Duschraum erschöpft an die Wand. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, dabei umschloss sie den Oberkörper mit ihren Armen, wie um sich zu schützen.

Auf einmal ging ein Duschkopf an und Wasser spritzte mit Druck auf die weißen Fliesen. Sophie drehte erschrocken ihren Kopf in die Richtung. Dann ging der nächste Duschkopf an und ein weiterer und noch ein weiterer. Kraftlos rutschte Sophie mit dem Rücken an der Wand in die Knie, ihr Atem ging nur noch stoßweise. Panik machte sich in ihr breit. Doch so plötzlich wie die Duschköpfe angegangen waren, so abrupt stoppten sie auch wieder und Stille breitete sich aus. 

Diese Stille wurde jäh zerschnitten von Schritten, die sich anhörten, als wenn jemand mit nackten Füßen über nasse Fliesen läuft. Patsch, patsch. Sophie kniff die Augen zusammen, konnte jedoch niemanden entdecken. Sie war allein in dem Duschraum. Aber woher kamen dann die Geräusche? Die Schritte kamen näher und Sophie rutschte an der Wand entlang in Richtung Tür. Als mit einem Mal das Licht ausging und der Raum in undurchdringliche Schwärze gehüllt wurde. Selbst vom Flur kam kein Lichtstrahl hinein. Plötzlich fühlte Sophie sich von einer Kraft aufgehoben. Und ehe sie es sich versah, schleuderte sie durch die Luft und krachte einige Meter entfernt auf den Boden. Es gelang ihr, sich einigermaßen abzufangen, jedoch konnte sie nicht verhindern, dass sie schmerzhaft auf ihrer linken Hüfte und dem linken Ellenbogen landete. Sophie stöhnte auf und schnappte nach Luft. Allerdings blieb ihr keine Zeit sich auszuruhen oder die Schmerzen abklingen zu lassen. Panisch begann Sophie auf allen Vieren durch die Dunkelheit zu kriechen, dorthin, wo sie die Tür vermutete. Irgendwo hörte sie wieder die Schritte, die patschend über die nassen Fliesen liefen. Die Schritte wurden schneller und schienen nun direkt hinter ihr zu sein. Wimmernd streckte Sophie einen Arm aus und tastete wild in der Dunkelheit umher, in der Hoffnung auf den Widerstand einer Wand zu stoßen, damit sie sich orientieren konnte. „Hilfe!“ krächzte sie. Sie spürte einen schweren Schlag in ihrer Magengrube, so, als hätte ihr jemand einen brutalen Tritt versetzt und wiederum flog sie ob der Wucht einen guten Meter durch den Duschraum. Diesmal landete sie auf dem Rücken. Die Schmerzen unterdrückend drehte sie sich auf den Bauch und versuchte sich robbend durch den Raum zu bewegen. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. 

„Bitte.“ flehte sie, „bitte Dana, was habe ich dir getan? Ich verspreche, ich werde Samuel in Ruhe lassen. Ich verspreche es dir, nur lass mich am Leben.“ 

Wieder hörte sie die Schritte, sie näherten sich unaufhaltsam. Sophie schluchzte auf und rollte sich auf dem Boden zusammen, dabei versuchte sie instinktiv ihren Kopf mit den Armen zu schützen. Sie kniff die Augen fest zu … und wartete. Aber nichts geschah. Plötzlich ging das Licht an und Schwester Linda betrat gemeinsam mit Dr. Bennet den Raum. Als sie Sophie schluchzend auf dem Boden liegen sahen, stürzten sie besorgt auf sie zu. 

„Sophie, Kind, was ist passiert. Warum liegst du hier im Dunkeln?“ Das war eindeutig die Stimme von Dr. Bennet. 

„Oh mein Gott was ist denn mit dir passiert?“, entfuhr es Schwester Linda, „Bist du etwa mit dem Kopf an die Wand gelaufen?“

Haltsuchend klammerte sich Sophie an Dr. Bennet. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge, dabei weinte sie haltlos. Erleichterung überkam sie und urplötzlich fühlte sie sich matt und kraftlos. Kurzentschlossen hob Dr. Bennet Sophie auf seine Arme und trug sie aus dem Duschraum. 

„Wir sprechen uns noch.“ sagte er in scharfem Ton in Richtung der Krankenschwester, die ihnen dicht auf dem Fuß folgte. 

„Aber … ich habe sie nicht mehr als wenige Minuten allein gelassen. Wirklich, ich bin nur kurz über den Flur und habe Ihnen Bescheid gegeben“, erwiderte diese in flehendem Tonfall. Aber Dr. Bennet beachtete sie schon nicht mehr, sondern ging mit Sophie auf dem Arm schnellen Schrittes in Richtung Büro. Vor der Tür stellte er Sophie auf die Füße. Sie wankte kurz und griff haltsuchend nach Dr. Bennets Arm. Der Professor legte schützend den linken Arm um sie, mit der rechten Hand schloss er zeitgleich seine Bürotür auf. Dann führte er Sophie in sein Büro, wo sie auf einem Stuhl gegenüber seines Schreibtisches Platz nahm. Dr. Bennet setzte sich an seinen Schreibtisch. Er faltete die Hände auf dem Tisch und sah Sophie prüfend an. 

Sophie hing ihren Gedanken nach, tauchte ein in die Erlebnisse der letzten Stunden und Dr. Bennet ließ sie gewähren. Lange Zeit sagten beide kein Wort. Stille breitete sich zwischen ihnen aus, wurde fast greifbar und verursachte eine Kluft, die Sophie mehr und mehr von Dr. Bennet zu trennen schien. Dann sah Sophie auf und blickte Dr. Bennet ins Gesicht. Diese Geste reichte anscheinend aus, um die Verbindung zwischen ihnen beiden wiederherzustellen, denn Dr. Bennet richtete nun das Wort an sie. 

„Möchtest du mir erzählen, was passiert ist Sophie?“ fragte er mit sanfter Stimme, dabei lächelte er sie aufmunternd an. Sophie atmete zitternd ein, dann gab sie sich einen Ruck. 

„Es … es ist Dana. Sie hat mich heute schon mehrmals angegriffen. Ich glaube, sie ist gefährlich.“ antwortete Sophie zögernd. 

„Du meinst Dana war es, die dich vor wenigen Minuten im Duschraum so zugerichtet hat?“ fragte Dr. Bennet vorsichtig nach. Sophie nickte, dabei sah sie auf den Boden. 

„Nun, Sophie. Dana hat den Duschraum bereits mehrere Minuten vor dir verlassen. Sie hat sich bei Schwester Judith ihre Nachtmedikation abgeholt und dann noch einige Sätze mit Schwester Judith gewechselt. 

Tatsächlich ist es sogar so, dass Dana sich noch im Dienstzimmer aufgehalten hatte, als Schwester Linda zu mir kam um mich zu Hilfe zu holen. Ich habe sie selbst dort gesehen.“ 

„Aber … aber … das kann … nicht sein.“ Sophie war fassungslos „Dana hat mich attackiert. Erst heute Mittag und dann später nochmal unter der Dusche und sie war es auch, die mich gerade eben so verletzt hat. Bitte Sie müssen mir glauben. Dana hasst mich.“ flehentlich sah Sophie Dr. Bennet an. 

„Wie ich eben bereits sagte, Dana kann es nicht gewesen sein, da sie sich zum besagten Zeitpunkt im Schwesternzimmer aufgehalten hatte. Dafür gibt es mehrere Zeugen und ich bin im Übrigen einer davon.“ entgegnete Dr. Bennet kurz angebunden. 

„Mag sein, dass Dana dich hasst und vielleicht ist sie sogar gefährlich, aber selbst sie kann sich nicht an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten.“ 

„Aber …“ begann Sophie. 

„Schluss jetzt!“ wurde sie jedoch von Dr. Bennet brüsk unterbrochen. „Ich möchte keine weiteren haltlosen Anschuldigungen mehr von dir hören.“ Wiederum entstand eine Pause. Es lag mittlerweile eine Spannung in dem Raum, die man beinahe mit den Händen greifen konnte. Sophie blickte auf ihre Hände, die verkrampft auf ihrem Schoß lagen. Sie war frustriert und enttäuscht, hatte sie doch geglaubt, in Dr. Bennet einen Verbündeten zu haben. Wut stieg in ihr hoch und ihr wurde heiß. Einen kurzen Moment hatte sie gar das Gefühl, an dieser Wut zu ersticken. Wiederum richtete Dr. Bennet das Wort an sie, wie durch Watte vernahm sie seine Stimme, die nun wieder freundlich und sanft zu ihr sprach. 

„Sophie hör zu. Ich weiß du machst gerade eine schwere Zeit durch.“ Langsam tröpfelten die Worte nach und nach in Sophies Bewusstsein und sie bemerkte wie die Spannung nachließ. Die Wut verflog und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Professor. 

„Dr. Bennet, Emily hat mir von Vorkommnissen in diesem Krankenhaus erzählt. Sie meinte, die Leute hier wären alle ein wenig nervös, wegen der Dinge, die hier passiert sind. Ich weiß, dass diese Vorkommnisse irgendwie mit mir zu tun haben müssen, aber … ich erinnere mich an nichts und Emily konnte oder besser wollte mir nichts weiter darüber verraten. Bitte Dr. Bennet erzählen Sie mir, was passiert ist, vielleicht könnte mir das helfen, mein Gedächtnis wiederzufinden.“ Dr. Bennet wirkte sichtlich überrumpelt. 

Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, unschlüssig, wie er auf dieses Anliegen reagieren sollte. Er antwortete langsam, dabei wählte er seine Worte mit Bedacht.

„Manchmal, wenn einem Menschen ein traumatisches Erlebnis wiederfährt, entwickeln Körper und Geist eine Art Schutzmechanismus, um die Persönlichkeit, die Seele dieses Menschen vor diesen entsetzlichen Erfahrungen zu schützen. Das kann beispielsweise in Form einer Amnesie geschehen. Der Mensch erinnert sich einfach nicht mehr daran. In der Regel ist so eine Amnesie ein temporärer Zustand, nach und nach kehren die Erinnerungen zurück. So, dass der Betroffene es auch verkraften kann. Verstehst du, was ich meine? Ich möchte dich auf dieser Reise zurück in deine Vergangenheit gern begleiten, jedoch werde ich alles unterlassen, was dazu führt, dass deine Erinnerungen künstlich oder von außen wieder aktiviert werden. Alles soll in einem Tempo geschehen, in dem niemand übermäßig belastet wird, als eine Art organischer Prozess, sozusagen.“ Dr. Bennet sah, dass Sophie mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Sie nagte an ihrer Unterlippe, unschlüssig wie sie nun reagieren sollte. Sophie straffte die Schultern und sah Dr. Bennet fest in die Augen. Sie hatte augenscheinlich nicht vor, ihn so schnell vom Haken zu lassen. 

„Dr. Bennet, wer ist Stephanie?“ Die Frage war ihr entschlüpft noch bevor sie Zeit gehabt hatte lange darüber nachzudenken. Anscheinend hatte sie mit dieser Frage jedoch den richtigen Nerv getroffen, denn Dr. Bennet schien sichtlich außer Fassung gebracht. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er wich ihrem Blick aus. 

Ohne zu antworten stand er in einer abrupten Bewegung auf und ging steif zum Fenster. Dort angekommen blieb er stehen und sah hinaus in die Dunkelheit. 

„Ich befürchte fast, Stephanie ist nicht mehr hier.“ antwortete er schließlich vage, ohne sie dabei anzuschauen. 

„Nicht mehr hier? Was soll das heißen? Ist sie weggezogen? Oder … lebt sie vielleicht gar nicht mehr.“ Gedanken wirbelten in Sophies Kopf umher. Sie spürte, dass sich irgendwo in einem verborgenen Winkel ihres Gedächtnisses die Antwort auf ihre Fragen befand. 

„Ich kann dir nicht sagen, wo Stephanie sich gerade aufhält. Sie war eines Tages einfach verschwunden.“ Mittlerweile hatte sich Dr. Bennet wieder zu Sophie gewandt, während er sprach, sah er sie ernst an. In seinen Brillengläsern spiegelte sich das Licht, so dass sie seine Augen nicht erkennen konnte. 

„Was soll das heißen ‚einfach verschwunden‘? entgegnete Sophie aufbrausend. „Wurde nach ihr gesucht? Haben sie die Polizei informiert? Erst erzählen Sie mir, Stephanie ist nicht mehr hier, nun ist sie einfach verschwunden.“ Sophie merkte selbst, dass sie immer lauter wurde. Mittlerweile war sie von ihrem Stuhl aufgestanden und näherte sich mit wütenden Schritten dem Arzt, der mit dem Rücken an der Wand lehnte und ihr wortlos entgegensah. Als sie direkt vor ihm stand sah sie ihm geradewegs in die Augen, dabei bemerkte sie ein beunruhigtes Flackern in seinem Blick. Ohne Zweifel, Dr. Bennet war verunsichert, fast schien es, als habe er sogar …. Angst vor ihr. Der Augenblick dauerte jedoch nur wenige Sekunden und Sophie war sich nicht sicher, ob sie sich das nicht vielleicht doch nur eingebildet hatte. Dr. Bennet jedenfalls räusperte sich, straffte die Schultern und erwiderte ihren Blick ruhig und abwartend. 

„Soll ich Ihnen mal was sagen? Sie wissen einen Scheiß“ Sophie beendete ihren Satz mit einem verächtlichen Schnauben. Während sie sprach, tippte sie Dr. Bennet mit ihrem Zeigefinger mehrmals kräftig vor die Brust. 

Im selben Moment öffnete sich die Tür zum Büro und der kräftige Pfleger, den Sophie zuvor schon im Schwesternzimmer gesehen steckte seinen Kopf in das Büro. 

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung Professor? Benötigen Sie vielleicht Hilfe?“ erkundigte sich der Pfleger. 

 

„Vielen Dank Sven.“ antwortete der Professor. „Äh … Sophie, … also die junge Dame neben mir möchte gern auf ihr Zimmer begleitet werden.“ Während er sprach umspielte ein kleines fast ironisches Lächeln seine Lippen. Sven schaute Dr. Bennet zunächst verständnislos an. Dr. Bennet jedoch hielt seinen Blick fest. Die stumme Konversation dauerte nur wenige Sekunden, denn plötzlich schien Sven zu verstehen und ein breites Grinsen erschien in seinem Gesicht. Er trat auf Sophie zu und nahm sie bei ihrem rechten Arm. Auch wenn er sie freundlich lächelnd anblickte, sein Griff um ihren Oberarm war kräftig und unmissverständlich. Er würde höchstwahrscheinlich nicht eine Sekunde zögern Gewalt anzuwenden, sollte Sophie sich gegen die Aufforderung zu Gehen zur Wehr setzen. Sophie wusste, dass sie sich geschlagen geben musste. Sie blickte dem Professor mit einem verächtlichen Lächeln in das Gesicht, ließ sich dann jedoch widerstandslos von Sven in Richtung Tür führen. 

„Ähm Sven. Bitte gehen Sie auf dem Weg doch bitte am Schwesternzimmer vorbei. Schwester Judith soll noch mal einen Blick auf Sophies Blessuren werfen.“ 

„Wird gemacht Professor.“ entgegnete Sven ohne sich jedoch dabei umzudrehen, gleichzeitig zog er Sophie grob mit sich, so dass sie mit ihren nackten Füßen kaum noch den Boden berührte. Sophie nahm Abstand davon sich über die Behandlung zu beschweren. Sie wollte gegenüber Sven keine Schwäche zeigen. Ein Gefühl sagte ihr, dass er es nur als Aufforderung betrachten würde, sie noch weiter zu erniedrigen.

 

Am Schwesternzimmer angekommen, schloss Sven die Tür auf, ohne sie dabei jedoch loszulassen. Sein Griff war nach wie unverhältnismäßig fest, fast schmerzhaft. Er stieß sie durch die geöffnete Tür und kam dann selbst hinterher. Bedächtig schloss er die Tür wieder und lehnte sich dann von innen dagegen, dabei versperrte er mit seinem massigen Körper den verglasten Eingang. Während Sven lässig an der Tür lehnte, musterte er Sophie unter halbgeschlossenen Lidern von Kopf bis Fuß. Sophie wurde plötzlich auf unangenehme Art und Weise daran erinnert, dass sie immer noch ihren Bademantel trug, den sie nach dem Duschen übergezogen hatte. Davon abgesehen, war sie völlig nackt. Svens Blick blieb am Ausschnitt des Bademantels hängen, der ihren Brustansatz bedeckte, dabei leckte er sich provozierend die Lippen. Ekel überkam Sophie und sie schloss mit einem kräftigen Griff den Bademantel über ihrer Brust und verschränkte die Arme, dabei blickte sie Sven trotzig entgegen. Dieser ließ ein leises Lachen vernehmen, dann löste er sich von der Wand und kam provozierend langsam auf Sophie zu. Sophie ging rückwärts durch den Raum, dabei ließ sie Sven nicht aus den Augen. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Plötzlich machte Sven einen Ausfallschritt auf sie zu während er gleichzeitig die Hände hob, als ob er sie packen wollte. Sophie fuhr erschrocken zusammen und stieß hektisch die Luft aus. Sven ließ ein leises höhnisches Lachen vernehmen. Ohne Zweifel es machte ihm Spaß sie zu quälen und ihr Angst zu machen. Schließlich stieß Sophie an einen Tisch, wodurch ihr ein weiteres Ausweichen unmöglich gemacht wurde. Mit beiden Händen hielt Sophie sich am Tisch fest. Sie bog ihren Oberkörper nach hinten, um den Abstand zwischen sich und Sven so weit wie möglich zu vergrößern. Sven wusste, dass sie nun in der Falle saß. Er ließ sich Zeit, er kam langsam weiter auf sie zu. Schritt für Schritt. Sophies Bademantel war mittlerweile wieder auseinandergeklafft und der Ansatz ihrer Brüste war sichtbar. Gierig saugten sich Svens Augen an diesem Anblick fest, so intensiv, dass es sich fast wie eine körperliche Berührung anfühlte. Sven stand inzwischen so dicht vor ihr, dass ihre Körper nur noch wenige Zentimeter trennten, seine Hände hatte er links und rechts neben ihr auf die Tischplatte gelegt. Sein Gesicht war direkt vor dem ihren, so dicht, dass sie seinen Atem auf der Haut spürte. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite. Sven jedoch folgte ihrer Bewegung und versuchte wiederum ihren Blick einzufangen. Wieder wendete sie das Gesicht ab, diesmal auf die andere Seite. Mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper. Sven aber ließ sie nicht entkommen und folgte auch diesem Ausweichmanöver. Schließlich schloss sie resigniert die Augen, sie atmete heftig, ihre Brust hob und senkte sich dabei hektisch. Das lenkte Svens Blick wieder auf den Ausschnitt ihres Bademantels, der mittlerweile sehr viel mehr zeigte, als ihr lieb war. Plötzlich spitzte Sven die Lippen und pustete ihr auf den Brustansatz, dabei sah er sie mit einem provozierend anzüglichen Blick an. Frustriert schloss Sophie erneut die Augen und gab ein kleines Wimmern von sich. Sven ließ erneut ein leises Lachen vernehmen. 

„Na nu, habe ich dich vielleicht … erregt?“ fragte er sie mit einem amüsierten Unterton. 

„Lass mich in Ruhe.“ sagte Sophie mit zitternder Stimme „Bitte.“ sie bemerkte selbst wie klein und unterwürfig sie klang. Und auch Sven bemerkte es und es schien ihn nur noch mehr zu amüsieren. Er weidete sich regelrecht an ihrem Anblick. Sein Blick saugte sich an jedem Zentimeter nackter Haut fest, den der Bademantel freigab. Ein Würgereiz stieg in Sophie auf, gleichzeitig breiteten sich Wut und Frust in ihrem Körper aus und als Sven ihr kurz darauf wieder ins Gesicht sah, spie sie ihm mitten in seine grinsende Visage. Im selben Augenblick wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Das verschlagene Grinsen wich schlagartig aus Svens Gesicht und es verzerrte sich zu einer wütenden Fratze. 

„Du dumme Schlampe …“ setzte er an. Im gleichen Moment hörten beide, wie das Schwesternzimmer aufgeschlossen wurde. Erleichterung durchflutete Sophie und ließ ihr die Knie weich werden. 

Ermattet sackte sie in sich zusammen und stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab. Sven kämpfte sichtlich mit seiner Selbstbeherrschung, hatte sich dann jedoch schnell wieder im Griff. 

„Wir sehen uns wieder.“ raunte er ihr mit gepresster Stimme zu und stieß sich gleichzeitig von der Tischkante ab. Dann drehte er sich um und schlenderte betont lässig durch den Raum. Am Türrahmen stand Schwester Judith, die augenscheinlich Mühe hatte, die Szene vor ihr einzuordnen. 

„Der Professor hat mich gebeten, die Kleine, … Sophie richtig? … zu Ihnen zu bringen, damit sie sich ihre Wunden ansehen können.“ 

Mit diesen Worten drückte er sich an Schwester Judith vorbei und tippte sich im Vorbeigehen ironisch an die Stirn, um ein Salutieren zu simulieren. Schwester Judith presste missbilligend die Lippen zusammen, schwieg jedoch zu dieser Provokation. Dann wendete sie sich an Sophie. Bei Sophies Anblick weiteren sich Ihre Augen erschrocken und sie sog scharf die Luft ein. Anscheinend hatte Sophie doch so einige sichtliche Blessuren davongetragen. 

„War er das?“, fragte sie, während sie gleichzeitig mit dem Kinn in die Richtung deutete, in der Sven vor einigen Sekunden verschwunden war. 

„Nein, das ist unter der Dusche passiert. Ich bin attackiert worden. Ich denke, dass es Dana war.“ Schwester Judith legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. 

„Dana ist direkt nach dem Duschen hier vorbeigekommen und hat sich ihre Tabletten abgeholt. Sie sah allerdings nicht so aus, als wäre sie kurz zuvor in einen Kampf verwickelt gewesen. Jedenfalls hat sie mir noch erzählt, dass es einen Vorfall gegeben hatte. Jemand sei beim Duschen völlig ausgeflippt und habe um sich geschlagen und anscheinend halluziniert. Das warst dann also du.“, führte Schwester Judith aus während sie gleichzeitig beschwichtigend ihre Hand auf Sophies Unterarm legte. 

Frustriert blies Sophie die Wangen auf und ließ die Luft dann schlagartig entweichen, dann verschränkte sie abweisend die Arme vor der Brust. Sie sparte sich eine Antwort, anscheinend glaubte ihr ja sowieso niemand. 

„Ich kann mir schon denken, was passiert ist Liebes. So wie ich es mitbekommen habe, warst du nicht beim Abendessen. Schau, deine Medikamente stehen noch hier. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass du halluziniert hast.“ Sophie schnaubte entrüstet. „Und meine Verletzungen habe ich mir wahrscheinlich auch nur eingebildet, oder wie? Oder nein, jetzt weiß ich es. Ich habe mir die Verletzungen womöglich noch selbst beigebracht. Das ist es doch, was sie denken, nicht wahr?“ 

Schwester Judith schaute sie nur wortlos an und zuckte dann hilflos mit den Achseln. Das genügte Sophie als Antwort. Brüsk nahm sie den Becher mit den Medikamenten entgegen, setzte ihn an die Lippen und kippte die Pillen in ihren Mund. Dann erhielt sie einen weiteren Becher mit Wasser. Als sie Pillen heruntergeschluckt hatte, öffnete sie den Mund und streckte die Zunge heraus, um Schwester Judith die leere Mundhöhle zu zeigen. Anschließend verließ sie wortlos das Schwesternzimmer. 

 

Bevor Sophie in ihren Schlafraum ging, machte sie jedoch noch einen Abstecher zu den Toiletten. Sie wollte sich nun endlich selbst ein Bild von ihren Verletzungen machen. Sophie entschied sich für den mittleren Spiegel. Sie holte tief Luft und blickte dann kurz entschlossen ihrem eigenen Spiegelbild entgegen. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte war jung, nicht viel älter als 18 oder 19 Jahre alt. Dachte ich es mir doch Ansonsten kamen ihr die Gesichtszüge nicht bekannt vor Hallo Fremde Ein blasses Gesicht schaute sie an, mit großen blauen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrandet wurden. Umrahmt wurde das Gesicht von langen dunklen Haaren, die ihr wellig über den Rücken fielen. Die auffälligsten Merkmale waren jedoch die vollen Lippen und die Sommersprossen, die sich über Nase und Wangen verteilten. Ich bin hübsch. Ich bin richtig hübsch. Ein triumphierendes Gefühl formte sich in ihrer Magengrube und breitete sich langsam im gesamten Körper aus. Dann schaute sie sich ihre Blessuren näher an. Die linke Gesichtshälfte hatte so einiges abbekommen, anscheinend war sie doch übler aufgeschlagen, als sie zunächst angenommen hatte. Im Bereich des Ober- und Unterkiefers war das Gesicht geschwollen und verfärbte sich bereits dunkel. Das linke Auge war schon leicht zugeschwollen und auch der Mund wirkte aufgrund der Schwellung verzogen. Sie berührte ihr Gesicht vorsichtig mit den Fingerspitzen, verzog jedoch schmerzhaft das Gesicht. Morgen würde es wahrscheinlich noch um einiges übler aussehen. Dann öffnete sie den Bademantel. Schade, dass der Spiegel nicht auf den Boden reichte, so dass sie sich komplett sehen konnte. Aber so würde es auch gehen. Ihr Körper war schlank und jugendlich. Stolz blickte sie an sich hinunter. Sie strich mit den Fingerspitzen über ihren flachen wohlgeformten Bauch, nach oben über den Rippenbogen bis zu den kleinen festen Brüsten. 

Ein wohliges Prickeln lief ihr die Wirbelsäule hinunter. Ja ganz recht, ich BIN hübsch, Ach was, ich bin schön. Ein richtiger Hingucker. Scheiß auf dich Dana. Ein Lachen formte sich in ihrer Kehle. Sie ließ den Bademantel über ihre Schultern fallen und drehte sich mit dem Oberkörper, um auch ihre Rückseite betrachten zu können. Ja, sie hatte es nicht anders erwartet, auch ihr Po war fest und wohlgeformt. Das Lachen rollte aus ihrer Kehle und perlte von ihren Lippen. Trotz der Schmerzen und Schwellungen fühlte sie sich auf einmal ganz leicht und beschwingt. Nachdem sie ihre körperliche Inspektion beendet hatte, zog sie sich den Bademantel wieder über. Noch einmal schaute sie sich im Spiegel an, sie konnte sich fast gar nicht sattsehen. Sie zog eine Schnute, dann kräuselte sie die Nase. Sie zwinkerte sich selbst zu, biss sich auf die Unterlippe und legte dann kokett einen Finger an ihre Lippen. Sie wusste, dass sie albern war, aber das war ihr egal. Fröhlich begann sie zu lachen und auch ihr Spiegelbild lachte ihr entgegen. Von einer Sekunde auf die andere jedoch, war das Lachen in dem Gesicht, dass sie im Spiegel sah, wie weggewischt und ihr Spiegelbild blickte sie böse, fast hasserfüllt an. Erschrocken wich sie zurück. Das war doch nicht sie. Hatte sie gerade auch dieses Gesicht gemacht? Das Gesicht im Spiegel jedoch war weder zurückgewichen, noch blickte es erschrocken. Unbeweglich verharrte es in der glatten Fläche und blickte sie unverwandt mit intensivem Blick an. Nur die Augen schienen sich zu bewegen, indem sie jede ihrer Bewegungen verfolgten. Sophie wich keuchend zurück in Richtung Tür. Als sie diese erreicht hatte, tastete sie mit fahrigen Bewegungen nach dem Türöffner. Hektisch öffnete sie die Tür und stürzte hinaus auf den Flur, der im Dämmerlicht lag. Offenbar waren die anderen schon zu Bett gegangen, denn sie konnte aus den Zimmern keine Geräusche hören. 

Mein Gott, was war das? Ich glaub, ich werde verrückt. Nein. Ich BIN verrückt. Ich sehe Dinge, die nicht real sind. Das ist alles nur in meinem Kopf. Und die Verletzungen? Meldete sich eine zweifelnde Stimme. Die hast du dir nun mal nicht eingebildet. Hastig schlich sie über den dunklen Flur und auf ihre Zimmertür zu. Leise öffnete sie die Tür zum Schlafraum. Das Licht war schon ausgeschaltet, aber sie konnte schemenhafte Umrisse erkennen. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, fiel die Anspannung auch schon von ihr ab. Hier fühlte sie sich irgendwie sicher. Hier würde ihr jetzt nichts mehr passieren. Sie tastete sich zu ihrem Kleiderschrank und suchte sich im Dunkeln Unterwäsche heraus, die sie so leise wie möglich anzog. Dann ging sie vorsichtig in Richtung Bett. Als sie das Bett von Gretchen passierte, bemerkte Sophie, dass diese stocksteif sarin lag und Sophie mit weit aufgerissenen Augen panisch ansah. Sophie unterdrückte nur mit Mühe den Impuls Gretchen mit einem lauten ‚Buh‘ zu erschrecken, auch wenn der Gedanke zu verlockend war. Befriedigt stellte Sophie fest, dass Emily ihr Bett direkt neben dem ihren hatte. So leise wie möglich legte sie sich hin und kuschelte sich in ihre Bettdecke. Sie bemerkte, wie die Müdigkeit sie übermannte, was sicherlich auch an den Medikamenten lag. Kein Wunder, dass hier schon so früh Zapfenstreich ist. Kurz hing sie noch ihren Gedanken nach, gab dann aber auf, als sie bemerkte, wie diese sich immer wieder in einzelne Fetzen auflösten und in die verschiedensten Richtungen flogen, unmöglich sie festzuhalten. Morgen, morgen würde sie versuchen, so einige Antworten auf die unzähligen Fragen zu bekommen. Emily würde ihr dabei sicher eine große Hilfe sein.

 

Sophie erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Ihre linke Hüfte schmerzte und sie hatte Schwierigkeiten gehabt, eine geeignete Liegeposition zu finden. Auch ihre linke Gesichtshälfte spannte unangenehm. Wie sie es bereits gestern vorausgeahnt hatte, würde ihr Gesicht heute wohl noch stärker angeschwollen sein. Ihre Zimmergenossen schliefen anscheinend noch tief und fest. Hier und da hörte sie ein leises Schnauben oder Schnaufen und ab und zu hörte sie auch das leise Rascheln einer Bettdecke. Ansonsten war jedoch alles still. Die friedliche Trägheit des gerade erwachenden Tages. Wie spät es wohl sein mochte? Durch einen kleinen Schlitz in den Fenstervorhängen konnte sie von ihrem Bett aus nach draußen sehen. Der Himmel vor ihrem Fenster war in ein leichtes ‚grau‘ getaucht, die Morgendämmerung hatte bereits begonnen. Die Sonne hatte ihren täglichen Kampf gegen die Dunkelheit aufgenommen. Nicht mehr lange und sie würden wahrscheinlich zum Frühstück geweckt werden. Sophie drehte sich vorsichtig auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Sie wollte die Zeit nutzen und den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren lassen. Außerdem war es an der Zeit, sich eine Strategie zu überlegen, wie sie hier in diesem Krankenhaus auf Dauer überleben konnte. Zunächst einmal musste sie dringend mehr über ihre Mitbewohner herausfinden, damit sie in Zukunft besser vorbereitet sein würde. Dann war da auch immer noch der eigene Gedächtnisverlust. Im Grunde genommen wusste sie über sich selbst beinahe ebenso wenig, wie über die anderen Patienten auf dieser Station. Sie nagte gedankenverloren an ihrer Unterlippe, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt. Hartnäckig versuchte sich ein Gedanke zu formen, den sie sich kaum zu denken wagte, geschweige denn in Worte fassen wollte. So sehr sie sich jedoch auch dagegen wehrte, die Frage blieb im Raum stehen und Sophie beschloss, sich dem Gedanken zu stellen, der sich ja doch nicht wieder verscheuchen ließ. Sie wand sich innerlich, aber die Frage blieb und verlangte eine Antwort. Wie vertrauenswürdig war eigentlich Dr. Bennet? Bis gestern Abend hatte sie noch geglaubt, dass er so ziemlich ihr einziger Verbündeter war. Ihren Fragen jedoch war er jedes Mal mehr oder weniger geschickt ausgewichen und hatte sie damit in einer Art luftleeren Raum zurückgelassen. Und bezüglich Stephanie hatte er sie ganz offensichtlich belogen. Er wusste ganz genau, was mit Stephanie geschehen war. Und am Ende hatte er sie gar vorsätzlich den Händen eines sadistischen Pflegers überlassen. Höchstwahrscheinlich war auch das Auftauchen von diesem Sven alles andere als ein Zufall gewesen. Wer weiß, ob Dr. Bennet diesen Sven nicht über ein Notfallsystem zu Hilfe gerufen hatte, ohne das Sophie dies bemerkt hatte. Ob die Ereignisse rund um Stephanies Verschwinden mit diesen … geheimnisvollen Vorkommnissen zu tun hatten, die Emily gestern erwähnt hatte? Überhaupt war Emily im Grunde genommen die einzige Person, die ihr gegenüber einigermaßen offen gewesen war. Wenn Emily gestern nicht von Samuel zurückgehalten worden wäre, dann hätte sie womöglich noch einiges mehr erfahren. Wenn Sophie also etwas in Erfahrung wollte, dann würde sie sich höchstwahrscheinlich an Emily halten müssen. Aber allein. Sie musste es irgendwie einrichten, dass sie und Emily Zeit miteinander verbringen konnten, ohne dabei von dritten gestört zu werden. Sie wusste nicht, wie schwierig es sein würde, da sie mit dem Tagesablauf auf der Station nicht vertraut war. Die Morgentoilette fand zwischen 07:00 und 07:30 statt, das hatte sie sich von gestern noch gemerkt. Von den Duschen jedoch hatte sie fürs Erste die Schnauze gestrichen voll. Das Frühstück würde dann sicherlich um 08:00 Uhr stattfinden. Das wäre schon einmal die erste Gelegenheit, um Emily ein paar Fragen zu stellen. Sie musste bloß darauf achten, dass sie nicht mit Dana oder Samuel an einem Tisch saßen. Samuel Ein verbotener Gedanke, deshalb wischte sie ihn so schnell wie möglich energisch weg. Samuel war tabu. Trotzdem brannten bei dem Gedanken an ihn heiße Tränen in ihren Augen. Zwischen ihr und Samuel bestand eine starke Verbindung, ohne Zweifel. Vielleicht waren sie sogar einmal ein Paar gewesen. Das würde auch die unwahrscheinliche Anziehung erklären, die Samuel auf sie ausübte. Aber es war mehr als nur reine körperliche Anziehung. Allein der Gedanke an Samuel, wühlte ihr Innerstes auf und es ergriff sie ein starkes Sehnen. Sie blinzelte ein paar Mal angestrengt, da sie nicht zulassen wollte, dass sich die Tränen ihren Weg bahnten. Dann versuchte sie erneut sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wo war sie noch mal stehengeblieben? Richtig. Beim Frühstück. Sie musste also Emily und sich von den anderen isolieren. Nur … wie ging es dann weiter? Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie weiter verfahren sollte.

Mittlerweile erwachte anscheinend das Leben auf der Station. Gedämpfte Geräusche drangen in den Raum und auch der Schlaf ihrer Mitbewohner wurde merklich unruhiger. Es blieb ihr augenscheinlich nicht mehr allzu viel Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Emily hatte gestern noch erwähnt, dass am Vormittag und Nachmittag diverse Therapien stattfanden. Der nächste Schritt wäre dann also, den Therapieplan in Erfahrung zu bringen. Da würde sie Schwester Judith fragen. Samuel und Emily arbeiteten am Tag in der Gärtnerei. In der Zeit wäre es quasi unmöglich, mit Emily ein Gespräch zu führen. Es sei denn, sie würde selbst auch in der Gärtnerei arbeiten dürfen. Sie nahm an, dass eine solche Entscheidung von Dr. Bennet selbst getroffen werden würde. Es half also nichts, sie würde ihn wohl oder übel um Erlaubnis fragen müssen. Emily, die im Bett nebenan lag, räkelte sich träge. Augenscheinlich befand sie sich gerade am Übergang zwischen Wachen und Schlafen. Trotz ihrer Schmerzen drehte sich Sophie auf die linke Seite, dabei ächzte und stöhnte sie mit verzerrtem Gesicht. Sie rutschte ein wenig hin und her und versuchte eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Dann sah sie Emily beim Aufwachen zu. Emily schien den Blick zu spüren, denn nur wenige Minuten später schlug sie die Augen auf. Sophie lächelte sie an, zumindest versuchte sie es, denn sie bemerkte, wie die linke Gesichtshälfte unangenehm spannte. Anscheinend brachte sie jedoch auch nicht mehr als eine verzerrte Grimasse zustande, denn Emilys Augen weiteten sich und sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Sophie nahm sich vor, sich davon nicht weiter irritieren zu lassen, schließlich hatte sie ja noch ihre Pläne mit Emily. „Guten Morgen Schlafmütze.“ nuschelte sie aufgrund ihrer Gesichtsschwellung undeutlich. Wenn sie den Mund beim Sprechen so wenig wie möglich bewegte, war es sogar einigermaßen erträglich.

 

Die Geräusche auf dem Flur nahmen an Intensität zu. Jeden Augenblick würde sich die Tür öffnen. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, da wurde er auch schon Realität. Die Tür wurde aufgestoßen und die Neonröhren an der Decke tauchten den Raum in unangenehme Helligkeit. 

„Morgenstund hat Gold im Mund.“ flötete eine Stimme gespielt fröhlich und unangenehm laut. Es war die zweite Krankenschwester, die Sophie gestern schon gesehen hatte. Dieser Moment jedenfalls befreite Sophie von dem erschrockenen und mitleidigen Blick, mit dem Emily sie bedacht hatte, denn diese versuchte nun ihre Augen mit der Bettdecke zu schützen. Auch Sophie kniff unwillkürlich die Augen zusammen, was wiederum ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Gesicht hervorrief. Sie musste zukünftig daran denken, unbedachte Bewegungen zu vermeiden, wenn sie nicht jedes Mal einer Schmerzattacke ausgesetzt sein wollte. Molly, die einige Betten entfernt schlief, stöhnte missmutig auf. Direkt neben ihr an der Wand befand sich das Bett von Gretchen. Sophie verzog die Mundwinkel zu einem leicht verächtlich wirkenden Lächeln. War ja klar, dass Gretchen den größtmöglichen Abstand zwischen sich und Sophie schaffen wollte. Dieses Opfer Moment mal. Woher kamen eigentlich immer wieder diese unfreundlichen Gedanken? Gretchen jedenfalls saß schon auf der Bettkante und versuchte Molly durch sanfte Berührungen an der Schulter zum Aufstehen zu bewegen. Uninteressiert wandte Sophie sich ab, dabei kreuzte sich ihr Blick mit dem von Hannah, die ihrerseits ebenfalls im Aufstehen begriffen war. Im Gegensatz zu Emily nahm Hannah Sophies Anblick jedoch völlig ungerührt zur Kenntnis, sie ließ jedenfalls keinerlei Gefühlsregung erkennen. Es gelang Sophie nicht, Hannahs Blick weiter festzuhalten, denn diese war mittlerweile aufgestanden und befand sich schon auf dem Weg zur Tür. Emily hatte sich noch immer unter ihrer Bettdecke versteckt und hatte offenbar noch keine Lust aufzustehen. Sophie stand auf und blickte unentschlossen auf die Wölbung der Bettdecke hinunter. Dann griff sie kurz entschlossen nach einem der unteren Zipfel der Bettdecke und mit einem heftigen Ruck riss sie die Bettdecke von Emily herunter. Diese war so überrascht, dass sie kaum Zeit hatte zu reagieren. 

„Hey!“, rief sie empört, „Was soll das?“ 

„Zeit zum Aufstehen.“ entgegnete Sophie ungerührt. Emily setzte sich mit missmutigem Gesicht auf die Bettkante und gähnte herzhaft. 

„Ich wusste gar nicht, dass du so ein Morgenmuffel bist.“ sagte Sophie mit leicht amüsiertem Unterton. 

„Wenn man so brutal geweckt wird. Wie wäre es mit einem Eimer kalten Wasser beim nächsten Mal.“ maulte Emily schlecht gelaunt. Ganz offensichtlich war Emily so früh am Morgen nicht wirklich zu Späßen aufgelegt. Sophie würde es sich für das nächste Mal merken. Schließlich war Emily die letzte, mit der sie es sich hier verscherzen durfte. Sie setzte sich neben Emily auf die Bettkante und legte sanft den Arm um sie. 

„Tut mir leid.“ entschuldigte sie sich, „Ich dachte, es wäre lustig. Soll nicht wieder vorkommen.“  

Während sie sprach, war sie bemüht, ihre Gesichtsmuskeln nicht übermäßig zu beanspruchen. Trotz dieser Bemühungen konnte sie jedoch nicht verhindern, dass immer wieder schmerzhafte Stiche ihre Gesichtszüge förmlich zu lähmen schienen. 

„Schon gut.“ murmelte Emily mit gesenktem Kopf, mittlerweile jedoch in versöhnlichem Tonfall. Dann knuffte sie Sophie scherzhaft in die Seite. Diese zuckte zusammen 

„Autsch!“ entfuhr es ihr, „Das war dann wohl die Rache.“ brachte sie gepresst hervor. 

„Oh mein Gott nein.“ antwortete Emily bestürzt, „Das hatte ich schon wieder ganz vergessen. Du siehst ja furchtbar aus. Wie ist das denn bloß passiert? Bist du von einem Panzer überrollt worden?“ Sophies Gesicht verdunkelte sich, als sie an die Ereignisse des gestrigen Abends dachte. Sie spürte einen Kloß im Hals und schluckte mehrmals heftig, bevor sie wieder in der Lage war, mit dem Mund Worte zu formen. 

„Weißt du noch, als Schwester Linda euch alle aus den Duschen geschickt hat? Sie ging dann kurz darauf selbst hinaus, um Dr. Bennet zu holen. Als ich dann allein in der Dusche war, ging plötzlich das Licht aus und ich bin von jemandem attackiert worden. Ich konnte zwar nicht sehen, wer das war, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Dana gewesen sein muss. Höchstwahrscheinlich hat sie beobachtet, wie Schwester Linda den Raum verlassen hat und dann hat sie sich einfach selbst wieder hineingeschlichen.“ Während sie sprach, blickte Emily sie stumm an und auch als Sophie geendet hatte, sagte Emily kein Wort. Das war auch nicht nötig, denn der Zweifel in Emilys Gesicht war unübersehbar. Sophie hatte selbst bemerkt, wie sehr das viele Sprechen sie angestrengt hatte, deshalb beschloss sie, auf Emilys offensichtliche Zweifel zunächst nicht weiter einzugehen. Es würde noch andere Gelegenheiten geben, Emily auf ihre Seite zu bekommen. Fürs erste würde sie es jedoch wohl oder übel dabei belassen müssen. Sophie straffte die Schultern und stand vom Bett auf. Leicht humpelnd machte sie sich auf den Weg in den Waschraum. Seufzend folgte Emily ihr. Sie wünschte sich, sie hätte ihre Emotionen besser im Griff gehabt. Es war unübersehbar, dass sie Sophie verletzt hatte, auch wenn diese es nicht offen ausgesprochen hatte. Und Sophie gegen sich aufzubringen, das war nun wirklich das letzte, was sie riskieren wollte.

 

Als Sophie im Waschraum ankam, war Hannah schon dort. Ihre Blicke trafen sich in dem Spiegel vor dem Hannah stand. Prüfend und mitleidlos ließ sie ihren Blick kurz auf Sophies Gesicht verweilen, dann fuhr sie ungerührt mit ihrer Morgentoilette fort. Eine weitere, ihr unbekannte Frau befand sich am Waschbecken direkt daneben und putzte sich hingebungsvoll die Zähne. Sie schenkte der gerade eingetretenen Sophie keinerlei Beachtung. Sophie zuckte leicht mit den Schultern, dann suchte sie sich eine Toilette aus, die weit genug entfernt war, so dass Hannah sie von dem Platz aus an dem sie sich befand, nicht einsehen konnte. So viel also zur Privatsphäre. Emily betrat den Waschraum und war sichtlich bemüht, nicht in ihre Richtung zu blicken, möglicherweise um sie nicht noch weiter zu beschämen. Kaum hatte Emily den Waschraum betreten, da wurde die Tür erneut aufgestoßen und Molly kam herein, die natürlich Gretchen im Schlepptau hatte. Molly ging schnurstracks an der Toilettenkabine vorbei, ohne Sophie dabei eines Blickes zu würdigen. Gretchen jedoch, die an Mollys Arm geklammert hinter ihr herschlich, wandte urplötzlich den Kopf zur Seite und blickte Sophie geradewegs in die Augen. Beim Anblick der Hämatome und Schwellungen auf Sophies Gesicht zuckte ein zufriedenes kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln. Dann ließ den Blick noch einen Moment auf Sophie verweilen, die immer noch auf der Toilette saß. Beschämt rutschte diese auf der Toilettenbrille hin und her. Dieser Augenblick war dann jedoch genauso schnell wieder vorbei, wie er gekommen war, so dass Sophie schon zweifelte, dass sie das tatsächlich gerade erlebt hatte. Fassungslos starrte sie Gretchen hinterher. Von wegen Opfer Sophie erledigte rasch ihr Geschäft und trat dann aus der Toilettenkabine hervor. Gretchen und Molly standen gemeinsam vor einem Waschbecken und erledigten ihre Morgentoilette, dabei unterhielten sie sich leise murmelnd miteinander. So sehr Sophie sich auch bemühte, sie konnte kein Wort von dem verstehen, was sich Gretchen und Molly zu sagen hatten. Anscheinend bemerkten sie auch nicht, dass sie beobachtet wurden. Sie schienen vollkommen in ihrer eigenen Welt und hatten rechts und links um sich herum alles ausgeblendet. Vom Flur her drang Stimmengewirr in den Waschraum. Offenbar waren nun auch die restlichen Bewohner der anderen beiden Schlafräume aufgestanden und machten sich auf den Weg zum Waschraum und zu den Duschen. Sophie atmete tief durch, sie straffte die Schultern und wappnete sich innerlich für die mögliche Konfrontation mit Dana. Die Tür öffnete sich und drei weitere Frauen betraten schwatzend den Waschraum, Dana war jedoch nicht darunter. Sophie, die gar nicht bemerkt hatte, dass sie vor lauter Anspannung die Luft angehalten hatte, entließ diese stoßartig aus ihren Lungen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung. Emily stand an einem der Waschbecken und winkte ihr auffordernd zu, sich zu ihr zu gesellen. Sophie zögerte nicht lange, denn sie hatte keinerlei Ambitionen sich das Waschbecken mit einer ihr wildfremden Person zu teilen. Wer weiß, wie viele Danas sich noch auf dieser Station befanden. Ein Blick in den Spiegel ließ ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Mittlerweile hatte sich ihre linke Gesichtshälfte dunkellila verfärbt, darüber hinaus war sie derart angeschwollen, dass ihr Gesicht regelrecht entstellt wirkte. „Ach du meine Güte.“ murmelte Sophie und betrachtete sich prüfend. Sie kam mit dem Gesicht noch näher an den Spiegel und drehte ihren Kopf langsam von einer Seite zur anderen. 

„Wenn ich allen nur meine rechte Seite zuwende, dann geht es.“ sagte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. 

Emily grinste frech, während sie ihre Wimpern mit einer Wimpernzange bearbeitete. Sophie putzte sich vorsichtig die Zähne, dann spritzte sie sich noch vorsichtiger Wasser in das Gesicht. Selbst das Haare kämmen bereitete ihr Schmerzen, so dass das Frisieren der Haare auch entsprechend kurz ausfiel. Ein einfacher Pferdeschwanz musste für heute genügen. 

„Ich glaube, ich verzichte heute auf ein Make-up.“ bemerkte Sophie mit einem letzten Blick in den Spiegel. 

„Das hast du doch auch gar nicht nötig.“ antwortete Emily ihr angelegentlich, während sie mit aufgerissenen Augen in den Spiegel blickte und sich konzentriert die rotbraunen Wimpern tuschte. Sophie lehnte sich mit der rechten Hüfte an das Waschbecken und sah ihr fasziniert dabei zu. Emily war einen guten Kopf kleiner als sie selbst und hatte eine zierliche, fast knabenhafte Figur. Sophie beobachtete, wie Emily zum Abschluss ein wenig zarten Lipgloss auftrug, anschließend kämmte sie sich die glatten rotbraunen Haare, bis diese glänzend über ihren Rücken fielen. Zufrieden begutachtete Emily das Ergebnis im Spiegel, dann streckte sie sich selbst frech die Zunge heraus und lachte dann fröhlich. Während sie sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren strich, drehte sie sich schwungvoll zu Sophie um und sah diese auffordernd an. 

Sophie nickte fast unmerklich. „Fertig?“ fragte sie überflüssigerweise. Als Antwort strahlte Emily sie an und hakte sich kurzerhand bei ihr unter. Gemeinsam verließen die beiden jungen Frauen den Waschraum. 

„Es ist zwar noch ein wenig früh, aber wenn wir Glück haben, kriegen wir schon einen Kaffee. Den habe ich auch bitter nötig, nachdem gewisse Leute, mich heute Morgen in aller Herrgottsfrühe brutal geweckt haben.“ Während sie das letzte sagte, warf sie Sophie einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. Noch bevor Sophie jedoch Gelegenheit hatte ihr zu antworten, fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die am Ende des Ganges an der Wand lehnte und ihnen wartend entgegenblickte. 

Beim Anblick von Samuel setzte ihr Herz einen Augenblick aus und sie hatte das Gefühl, als würden ihr die Beine unter dem Körper weggezogen werden. Sie zögerte kurz, wurde von Emily jedoch unbarmherzig mitgezogen. 

„Guten Morgen Samuel.“ rief Emily ihrem Bruder fröhlich entgegen. Samuel antworte kurz angebunden, wobei er seinen Blick jedoch keinen Augenblick von Sophies Gesicht abwandte. Er wirkte ernst und angespannt. Bei Samuel angekommen, blieben Sophie und Emily direkt vor ihm stehen. 

„Geh schon mal vor Emily,“ bedeutete Samuel ihr rau, jedoch ohne Emily dabei anzusehen, „wir kommen gleich nach.“ Das Lächeln auf Emilys Gesicht war auf einmal wie weggewischt. Ihr Blick wanderte forschend zwischen ihrem Bruder, der seine Augen noch immer fest auf Sophie geheftet hatte und Sophie hin und her, die ihrerseits nicht wusste, wohin sie schauen sollte, und deshalb verlegen zu Boden blickte, dabei drehte sie ihren Kopf so, dass Samuel so wenig wie möglich von ihren Blessuren zu sehen bekam. Endlich wandte Samuel seinen Blick von ihr ab. Er schaute seiner Schwester fest in die Augen. Nach wenigen Sekunden war der Machtkampf entschieden, denn Emily salutierte knapp und ging dann schnurstracks davon in Richtung Speisesaal, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen. Samuel ging nicht weiter auf die Provokation ein. Stumm wanderte sein Blick zurück zu Sophie. Diese wand sich innerlich ob der intensiven Musterung. Die Spannung zwischen ihnen war beinahe körperlich greifbar und offenbar hatte Samuel auch nicht vor, sie allzu bald von dieser zu erlösen. Schließlich stieß er sich leicht von der Wand ab. Mit einer Hand griff er ihr unter das Kinn und hob es sanft aber unerbittlich an. Sophie wehrte sich halbherzig und versuchte, die geschwollene Seite so gut wie möglich vor ihm zu verstecken. Daraufhin neigte Samuel kurzerhand seinen Kopf auf die Seite, um besser sehen zu können, gleichzeitig hob er Sophies Kinn so weit an, dass ihr Kopf leicht in den Nacken fiel. Ergeben schloss Sophie die Augen und holte zitternd Luft. Heiße Tränen brannten hinter ihren Lidern. 

Aus irgendeinem Grund schämte sie sich vor ihm. Sie wollte nicht, dass er sie so sah. Beim Anblick ihrer Blessuren sog Samuel scharf die Luft ein. Wimmernd befreite Sophie sich aus seinem Griff. Samuel ließ es zu, er ließ seine Hand sinken und bedrängte sie nicht weiter. Sophie drehte sich halb um, so dass sie Samuel nun den Rücken zuwandte. Mit beinahe hektischen Bewegung wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, dabei schien sie die Schmerzen kaum wahrzunehmen. Wortlos trat Samuel hinter sie. Sie bemerkte, dass er ihr sanft über die Haare strich. Sie hielt den Atem an, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Dann strichen seine Hände über ihre Oberarme, um anschließend auf ihren Hüften liegenzubleiben. Mittlerweile stand er so dicht hinter ihr, dass sie seine Brustmuskeln in ihrem Rücken spüren konnte. Die Wärme seines Körpers drang durch ihre Kleidung und sie fühlte, wie ihr leicht schwindelig wurde, ihr Atem wurde flacher. Vorsichtig strich er mit der Hand über ihre Haare und legte dabei ihren Hals frei. Unwillkürlich legte Sophie den Kopf in den Nacken und lehnte sich an seine kräftige Brust. An ihrem Rücken fühlte sie seinen hämmernden Herzschlag und sie spürte seinen beschleunigten Atem, der über die zarte Haut ihres Halses strich. Sie glaubte schier verrückt zu werden, während ihr wohlige Schauer durch den Körper rieselten. Dann legte Samuel seine Arme von hinten um ihren Oberkörper und hielt sie einfach nur fest. Sophie schmiegte sich mit geschlossenen Augen in seine Umarmung und ließ es zu, dass ihre Erregung nach und nach abflaute. Hier waren weder die Zeit noch der richtige Ort für Intimitäten. 

 

Nach einer halben Ewigkeit, wie es schien, räusperte Samuel sich schließlich und sein Griff um ihren Oberkörper lockerte sich. Mit sanftem Nachdruck drehte Samuel sie zu sich um, so dass sie wieder direkt vor ihm stand und seinen Blicken schutzlos ausgeliefert war. Samuel sah sie mit sanftem Blick an und sie lächelte beinahe scheu. Er hob die linke Hand und strich ihr mit dem Handrücken leicht über die geschwollene Gesichtshälfte. 

Und obwohl er sie kaum berührt hatte, zuckte Sophie schmerzvoll zurück. Samuel hielt erschrocken inne, dann lächelte er entschuldigend. Er ließ die Hand sinken und räusperte sich abermals. 

„Möchtest du mir erzählen, wie das passiert ist?“ bat er sie beinahe schüchtern. Sophie holte tief Luft, dann berichtete sie ihm von den Vorkommnissen unter der Dusche. Als sie den Angriff beschrieb, verdunkelten sich Samuels sanfte braune Augen, so dass sie beinahe schwarz wirkten und er kniff die Lippen zusammen. Als sie ihm gegenüber jedoch den Verdacht äußerte, dass ihrer Meinung nach Dana hinter den gemeinen Attacken stecken könnte, schaute er sie zunächst fassungslos an. 

„Dana?“ fragte er verblüfft. „Wie kommst du denn bloß auf diese Idee? Warum in alles in der Welt sollte Dana dir in der Dusche auflauern und dir … so etwas antun?“ Bei seinen letzten Worten machte er eine vage Geste in Richtung ihres Gesichts. 

„Weil sie mich hasst.“ antwortete sie lauter, als beabsichtigt und sie bemerkte, wie Samuel ob ihres Gefühlsausbruchs erschrocken zurückwich.  Ein wenig leiser fuhr sie deshalb fort. „Dana hat mich gestern zuvor schon einmal angegriffen und außerdem hat sie mich auch dringend gewarnt, die Finger von dir zu lassen.“ sagte sie gedehnt. Bei ihren letzten Worten zuckte ein amüsiertes Lächeln in Samuels Mundwinkeln und Sophie schnappte empört nach Luft. Machte er sich etwa über sie lustig? Heiße Wut stieg in ihr hoch und auch Scham darüber, auf welch unanständige Weise sie sich nur wenige Minuten zuvor mit ihm in der Öffentlichkeit gezeigt hatte. Sie hatte sich ihm voll und ganz geöffnet und sie hatte sich Raum und Zeit vergessend vollends in ihren Gefühlen für ihn verloren, verlieren wollen, jede einzelne Sekunde seiner Umarmung genießend. Und er? Spielte er vielleicht nur mit ihr? Bei diesem Gedanken krampften sich ihre Eingeweide erneut zusammen. Samuel legte ihr beide Hände auf die Schultern und zwang sie, ihm in das Gesicht zu blicken. Ernst schaute er sie an. Nur widerwillig hob sie den Kopf und blickte ihm gerade in die Augen. 

Ihre ablehnende Haltung schien Samuel zunächst zu verunsichern, ein nervöses Flackern erschien in seinen Augen. Nach nur wenigen Sekunden hatte er sich jedoch wieder im Griff. 

„Hör zu. Ich glaube dir doch. Ich denke nicht, dass du dir deine Verletzungen selbst zugefügt hast, egal, was die anderen sagen.“ Erschrocken hielt Samuel inne, als hätte er bereits zu viel gesagt. Verwirrt starrte Sophie ihn an. Was hatte er da gerade gesagt? Samuel fing sich jedoch schnell wieder und fuhr ungehindert fort, so dass Sophie keine Zeit mehr hatte, über das soeben Gesagte nachzudenken. 

„Ich bin auf deiner Seite und das war ich immer, das musst du mir glauben. Nur, die Sache mit Dana, das musst du dir aus dem Kopf schlagen. Sie ist sicherlich kein Unschuldslamm, aber mit dem Angriff auf dich kann sie gar nichts zu tun haben.“ sagte Samuel eindringlich. 

„Woher willst du das wissen? Du warst doch gar nicht dabei.“, fuhr Sophie ihn an. „Wo warst du denn, als ich gestern Abend um mein Leben kämpfen musste, häh?“, begehrte Sophie auf. 

„Ich kann es dir sagen.“, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen. Erschrocken drehten sich Samuel und Sophie um. Sie hatten Dana gar nicht kommen hören. Wie lange stand sie schon hinter ihnen? Wie viel hatte sie von dem Gespräch mitbekommen? Lässig, eine Hand in die Hüften gestützt, kam Dana wiegenden Schrittes auf sie zu. Ein ironisches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. 

„Sam weiß ganz genau, wo ich gestern Abend war, als du um dein kleines erbärmliches Leben kämpfen musstest.“ Bei den letzten Worten setzte Dana eine betont mitleidige Miene auf. „Nicht wahr, Sam, so ist es doch?“, schnurrte sie in seine Richtung. 

„Dana tu es nicht.“ sagte Samuel mit warnendem Unterton, während er gleichzeitig abwehrend den rechten Arm ausstreckte. 

„Was soll ich nicht tun?“, fragte Dana lauernd. „Deiner bedauernswerten kleinen Freundin die Wahrheit darüber sagen, wo du den letzten Abend verbracht hast, während sie heiße Tränen in ihr Kopfkissen geweint hat?“ Mitleidlos lachte Dana hart auf. 

Verwirrt schaute Sophie von Dana zu Samuel, die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf. Dann dämmerte es ihr. Samuel, ihr Samuel, dem sie noch vor wenigen Minuten so nah gewesen war, hatte sich gestern Abend mit Dana getroffen. Es war, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. 

„Samuel … „, setzte sie flehentlich an und streckte hilfesuchend die Hand nach ihm aus. Dieser rang sichtlich nach Worten. Aber er musste auch nichts mehr sagen. Allein an seiner schuldbewussten Miene erkannte sie, dass Dana die Wahrheit gesagt hatte. Entschuldigend zuckte Samuel schließlich hilflos mit den Schultern. Zutiefst gedemütigt bemerkte Sophie, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ein Kloß breitete sich in ihrer Kehle aus und ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen. Nein. Sie wollte sich vor Dana und vor Samuel nicht die Blöße geben, in ihrer Anwesenheit in Tränen auszubrechen. Trotzig reckte sie ihr Kinn in die Höhe. Sam setzte zu sprechen an, wurde jedoch von einer brüsken Armbewegung Sophies zum Schweigen gebracht. „Erspar mir deine Lügen, deine billigen Ausflüchte und lahmen Ausreden.“ sagte Sophie mit erstickter Stimme. 

„Bravo.“, jubelte Dana ironisch und klatschte Beifall. „Was für ein grandioser Auftritt.“ Mit hochrotem Kopf kehrte Sophie Dana und Samuel den Rücken zu und ging wie betäubt den Gang zum Schwesternzimmer hinunter. 

„Und ein noch besserer Abgang.“, rief Dana ihr noch hinterher. Mit Sophies Selbstbeherrschung war es nun vorbei. Der Gang verschwamm vor ihren Augen, während ihr die Tränen die Wangen herabliefen. Sie schluchzte auf, schwankte kurz und musste sich haltsuchend mit einer Hand an der Wand abstützen.